Wird die neu interpretierte Rado Anatom in ein paar Jahren bloß eine weitere Uhrenlinie sein, an die sich kaum jemand erinnert? Foto: © Rado

Mode sei ein Mittel, sich nicht darauf festlegen zu müssen, wer man ist, hat der britische Entertainer Quentin Crisp einmal behauptet. Stil bedeute demgegenüber, dass man entschieden hat, wer man ist – und daran festzuhalten vermag. Ob der eigene Stil bei den Mitmenschen auf Gegenliebe stößt, steht auf einem anderen Blatt. Falls man das überhaupt als wichtig erachtet. Crisp jedenfalls, an den der Welthit „Englishman in New York“ von Gordon Matthew Sumner alias Sting erinnert, gefiel sich in der Rolle des Exzentrikers.

Sie möchten wissen, was all das mit der in Keramik neu aufgelegten früheren Hartmetall-Uhrenlinie Rado Anatom zu tun hat? Nun, diese könnte die ideale Wahl sein für jene, die mit ihrem Stil auf Mainstream pfeifen. Warum, so muss gleichzeitig gefragt werden, gelang es Rado bislang so gut wie gar nicht, Uhren zu schaffen, deren Faszination und Begehrlichkeit Generationen überdauert und sogar kontinuierlich wächst? Exakt das trifft nahezu auf das gesamte Produktportfolio von Rolex zu.

Ende einer Mode

Vor diesem Hintergrund erscheint die Novität wie der Versuch der Wiederbelebung einer vergangenen Mode. Und tatsächlich ist es bei der Schweizer Marke um Uhren aus Keramik eher still geworden. Früher war mehr Lametta. Wer weiß, wie Juwelier-Auslagen typischerweise zu Beginn des Jahrtausends aussahen, versteht, was gemeint ist: Eine absolute Dominanz glänzender, avantgardistischer Rado-Uhren.

Doch seien wir ehrlich. Die einen liebten sie, die anderen hassten sie. Irgendwann hatten sich die meisten Menschen an ihnen sattgesehen. Das Problem für Rado: Ohne das optische Alleinstellungsmerkmal ist man sozusagen nur einer von vielen Karpfen im Teich. Nicht zuletzt deshalb, weil die Uhren im Inneren in aller Regel lediglich Standard-Uhrwerke aus dem Swatch-Konzernregal bieten. Bei den Schwestermarken von Rado bekommt man derlei für wesentlich weniger Geld.

Im mittleren Preissegment gefangen

Paradoxerweise war Rado anfänglich (noch bevor das 1917 gegründete Unternehmen diesen Markennamen erstmals einsetzte) ausschließlicher Produzent von Rohwerken für andere Uhrenfirmen. 1962 sorgte die Erfindung der ersten kratzfesten Uhr für größere Bekanntheit der seit 1983 (dem Jahr der Einführung der Wegwerfuhr „Swatch“) zur Swatch Group gehörenden Marke. Die „DiaStar“ genannte Innovation bestand aus dem eingangs erwähnten Hartmetall. Mitte der 1980er-Jahre folgten die weltweit ersten Keramikuhren.

Rado erreichte der in Anzeigen und Prospekten versprochenen ewigen Schönheit zum Trotz nie auch nur annähernd die Wertstabilität (geschweige denn Wertsteigerung) beispielsweise von Rolex. Schlimmer noch: Luxusmarken wie Audemars Piguet sind imstande, für ihre inzwischen ebenfalls zum Teil aus Keramik gefertigten Modelle Höchstpreise aufzurufen. Die Erzeugnisse aus Lengnau hingegen bleiben mangels „Manufaktur-DNA“ im seit Jahren unter Druck stehenden mittleren Preissegment gefangen.

Rado Anatom: Entscheidung aus Sparzwang?

Ein Hauptgrund für die schwieriger gewordene Marktlage ist natürlich der Siegeszug der Smartwatch. Die Stellung mechanischer Preziosen aus Traditionshäusern wie Patek Philippe tangiert das freilich nicht. Im mittleren Marktsegment bis 5000 Euro sieht die Lage anders aus. Hier trifft die Rado Anatom zudem auf starke Konkurrenz aus dem eigenen Land. Darunter Tudor, die erfolgsverwöhnte Einstiegsmarke von Swatch-Rivale Rolex.

Obschon es Rado an Selbstbewusstsein nicht zu mangeln scheint, macht man es sich womöglich unnötig schwer, indem man trotz des ambitionierten Preises (zunächst?) auf Kautschukbänder setzt. Mit der originalen Rado Anatom von vor 40 Jahren hat das nicht mehr viel zu tun. Stattdessen mutet die Entscheidung nach Sparzwang an. Vornehmer ausgedrückt: ein Fall von Skeuomorphismus. Durch die Strukturierung des Bandes soll der kostengünstige (wenngleich nicht a priori schlechte) Ersatz werthaltig wirken.

Drohende Umsatzeinbußen in Milliardenhöhe

Blicken wir kurz über den Tellerrand. Unternehmensberatungen mahnen, dass Uhrenhersteller im mittleren Segment in der nächsten Zeit Umsatzeinbußen in Milliardenhöhe werden verkraften müssen. Sofern es ihnen nicht gelingt, sich von der Masse abzuheben, Markennarrative neu zu beleben und engere (digitale) Beziehungen zur Kundschaft zu knüpfen.

Eindeutig kann man zwar konstatieren, dass sich Rado mit der neuen Anatom zumindest vom unmittelbaren Wettbewerb innerhalb der traditionellen Uhrenindustrie unterscheidet. Schwarz und (retro-)futuristisch geformt ist allerdings heutzutage vieles, das am Handgelenk getragen wird. Fitnessarmbänder und Smartwatches zum Beispiel.

Was ist eigentlich eine Designeruhr?

Zu Rados Verdiensten zählt, dass man mit früheren Entwürfen und der Pionierarbeit bei Werkstoffen über die Uhrenwelt hinaus das Design im letzten halben Jahrhundert beeinflusst hat. Ironischerweise bis hin zur Apple Watch. Fraglich ist, ob die eigene derzeitige Positionierung in Zukunft ausreichen wird, um die Marke interessant und relevant zu halten. Das Selbstverständnis als Anbieter von sogenannten „Designeruhren“, wie Rado selbst es ausdrückt, ist im Hinblick hierauf nicht unproblematisch.

Während Marktführer Rolex seine ikonischen Modellreihen – behutsam – innen wie außen bis ins kleinste Detail immer weiter perfektioniert, beschränkt sich Rado von wenigen Ausnahmen wie der ohne Uhrenkrone auskommenden eSenza abgesehen auf das Styling von Uhrengehäusen und Armbändern. Mit einem ganzheitlichen Designansatz hat das nicht viel zu tun. Daher ließe sich der Begriff „Designeruhren“ ohne Weiteres durch „Fashion Watches“ ersetzen. Ehrlicherweise reden wir dann über das unterste Marktsegment, in dem sich unzählige Billighersteller aus Fernost tummeln.

Rado-Uhren, an die sich niemand mehr erinnert

Hand aufs Herz: Die Gefahr ist groß, dass die neu interpretierte Rado Anatom in ein paar Jahren bloß eine weitere Uhrenlinie sein wird, an die sich kaum jemand erinnert. Zum Vergleich: Wem sagen Rado Xeramo, Ovation, r5.5, D-Star oder die soeben angesprochene eSenza noch etwas? Sie sind allesamt in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden und – ähnlich wie Modekollektionen – kurze Zeit später wieder vom Markt verschwunden.

Mitunter ist das schade. Schlecht ausgesehen haben einige der Kreationen nämlich nicht. Ein exzentrischer Geschmack ist keine Voraussetzung, um an den wechselvollen gestalterischen Experimenten von Rado Gefallen zu finden.

Schlussfolgerung

Wer mit der Anatom liebäugelt, jedoch bezüglich ihrer visuellen Dauer unsicher ist, sollte abwägen. Einerseits ist bekanntlich erlaubt, was gefällt. Eine Redewendung, die immerhin auf Goethe zurückgeht. Wer mag, setzt darüber hinaus auf das alte Grundprinzip der Mode, wonach (fast) alles wiederkommt. Wenn auch selten in exakt derselben Weise.

Andererseits hilft es, sich bewusst zu machen, was der eigentliche Sinn hinter der Anschaffung einer hochpreisigen respektive hochwertigen Uhr ist. Es geht darum, etwas zu erwerben, das von vornherein nicht anfällig dafür ist, irgendwann unmodern auszusehen. Intelligenz statt Obsoleszenz haben wir das an anderer Stelle genannt. Klassisch und zeitlos statt modern wäre in diesem Zusammenhang eine geeignete alternative Formulierung.

Weitere Informationen:
Rado Uhren AG
www.rado.com

Bildhinweis:
© Rado

 
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