Mit der Swatch What If muss das Runde ab sofort ins Eckige. 40 Jahre nach dem U(h)r-Modell führt Swatch etwas ein, das es so beinahe von Anfang an gegeben hätte. Foto: © Swatch AG

Wäre die 1983 eingeführte Swatch ähnlich erfolgreich geworden, wenn man sich im Vorfeld für einen anderen, nämlich den quadratischen Prototyp entschieden hätte? 40 Jahre danach erscheint mit der Swatch What If ziemlich genau das, was uns erspart blieb respektive vorenthalten wurde. Doch wir wären nicht COLD PERFECTION, würden wir das lediglich unreflektiert und unkritisch abfeiern.

Wohl jeder Mensch wird sich früher oder später fragen, wie viel im Leben Zufall beziehungsweise Glück ist und was sich tatsächlich steuern lässt. Manche behaupten, dass das Glück zu denen kommt, die hart genug dafür arbeiten. Jedenfalls war es offenbar die richtige Weichenstellung, Anfang der 1980er-Jahre aus verschiedenen Prototypen jene Uhr auszuwählen, die als Swatch Geschichte schrieb. 1983 auf den Markt gebracht, trug die Plastik-Wegwerfuhr entscheidend dazu bei, die ins Wanken geratene eidgenössische Uhrenindustrie zu stabilisieren.

Gleiches mit Gleichem bekämpfen

Das Konzept hinter der Ur-Swatch erinnert übrigens stark an die alte medizinische Idee, Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen (Similia similibus curentur). Man konterte also dem Quarz-Billiguhren-Angriff aus Fernost mit etwas, das in seiner Primitivität nicht mehr steigerungsfähig war. Was – notabene – keineswegs despektierlich gemeint ist. Im Design ist das erfolgreiche Reduzieren von Komplexität bekanntermaßen eine gesuchte Fähigkeit.

Demgemäß verringerte man für die Swatch die Anzahl der ehedem erforderlichen Komponenten erheblich und machte den Gehäuseboden zudem zur Werksplatine. Billigste Materialien und eine automatisierte Fertigung halfen die Kosten weiter zu drücken. Nach dem Motto: Was Japan kann, können wir schon lange.

Prototypen der ersten Swatch. Wäre die quadratische Form ebenfalls ein Welterfolg geworden?

Uhrmacherei versus Schweinerei

Das eigentlich Zündende war jedoch das Wecken von Begehrlichkeit vermittels Styling. Aus einem per se öden, seelenlosen Wegwerfprodukt entwickelte sich quasi eine Leinwand für Statements, die seither ähnlich funktioniert wie die Ansteckplakette. Auf Armbändern und Zifferblättern von Swatch-Uhren gab es bereits alles zu sehen: Symbole, Ornamente, Slogans, Reproduktionen von berühmten Kunstwerken … Hinzu kamen immer wieder exklusive Entwürfe – auch von großen Namen. Sogar ein „Pigcasso“ genanntes malendes Hausschwein durfte sich für ein limitiertes Modell austoben.

Es ist leicht erkennbar: Mit Uhrmacherei hat das Phänomen Swatch längst nur noch am Rande zu tun. Zum 40. Jubiläum und der Vorstellung der Swatch What If eröffnet man nun in Kampagnenvideos außerdem die Perspektive auf eine Art Paralleluniversum, in dem die Swatch von Anfang an eine quadratische Form besaß.

Eine Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat

Zur visuellen Unterstützung der Swatch What If zeigt die Kampagne Fahrräder mit quadratischen Rädern, rechteckige Donuts und Schallplatten, würfelförmige Fuß- und Basketbälle und vieles andere mehr. An Marketingideen mangelte es Swatch noch nie, wenngleich nicht mit jedem neuen Produkt an die früheren Erfolge angeknüpft werden konnte.

Eines dieser gescheiterten Experimente war die Swatch-Digitaluhr. Sie zeigte unter anderem die gleichermaßen glücklose Swatch-Internetzeit an. Einer von mehreren Versuchen, die Zeitmessung auf ein Dezimalsystem umzustellen. Biel als der Ort der Swatch-Zentrale wäre sicher gern ein digitales Greenwich geworden. Bloß setzte sich der aus 1000 „Beats“ pro Tag bestehende Hoffnungsträger der Marke nicht durch. Es handelte sich letztlich um die Antwort auf eine Frage, die (fast) niemand gestellt hatte.

Bei der Swatch What If, die zum 1. August 2023 – dem Schweizer Nationalfeiertag –  debütiert, lenkt nichts von der ungewohnten Form ab. Sie ist ähnlich schlicht gehalten wie die frühesten runden Modelle von 1983.

Die Swatch What If hat die DNA ihrer erfolgreichen Schwester

Wird demgegenüber die Swatch What If die Massen genauso begeistern wie der ebenfalls 33 Millimeter große Klassiker von 1983? Zweifellos hat sie die entsprechende DNA. Und wie im Fall ihrer runden Schwester stellt sie ein gemessen an den reinen Material- und Fertigungskosten extrem teures, aber nominal niedrigpreisiges – und daher theoretisch massentaugliches – Produkt dar. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob sich die Welt inzwischen nicht zu stark gewandelt hat.

Betont schlicht erscheint die Swatch What If (zunächst) in wenigen Uni-Farben. Der Fokus liegt nahezu ausschließlich auf der Form. Einziger Unterschied zu 1983: man bemüht sich, die Vokabel „Bioceramic“ möglichst häufig zu erwähnen. Ein netter Euphemismus für Wegwerfplastik, der davon abgelenkt, dass Swatch-Uhren praktisch irreparabel sind.

Was, wenn die Swatch What If keine Wegwerfuhr wäre?

Bis heute folgt Swatch im Prinzip der Formel: Industrieproduktion gleich Müllproduktion. Dass das aus der Zeit gefallen ist, muss eigentlich allen einleuchten, die sich fünf Minuten lang mit Themen wie der Verseuchung der Weltmeere beschäftigen. Oder umgerechnet rund dreieinhalb Beats; so viel Zeit wird man sicher auch in Biel finden.

Uns interessiert deswegen folgende Frage: Was, wenn die Chance genutzt worden wäre, aus der Swatch What If eine Uhr zu machen, die sich reparieren, warten, ja obendrein sinnvoll vererben lässt? Oder wäre die Swatch What If dadurch keine echte Swatch mehr und für die anvisierte Zielgruppe uninteressant?

Wir bei COLD PERFECTION sind zumindest überzeugt (wozu unzählige Rückmeldungen unseres Publikums beitrugen), dass es heutzutage genügend Menschen gibt, die über den Witz des schnellen Wegwerfens und Neukaufens nicht mehr lachen wollen oder können. Und gehört es nicht zur Verantwortung eines Weltkonzerns, hier die Wende einzuläuten?

Weitere Informationen:
Swatch AG
www.swatch.com

Bildhinweis:
Für alle Fotos gilt: © Swatch AG

 
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