Was macht den einen Gegenstand zum Stuhl und den anderen zum Kunstwerk? Die Neuerscheinung The Spirit of Chairs wirft viele Fragen auf. Das Foto zeigt den Bildband, der bei Lars Müller Publishers erschienen ist.

Mit „The Spirit of Chairs“ präsentiert der Verlag Lars Müller Publishers mit Sitz in Zürich die Sammlung von Thierry Barbier-Mueller – eine der weltweit größten privaten Kollektionen von durch Kunst- und Designschaffende entworfenen Stühlen. Einerseits ist der opulente Bildband prall gefüllt mit möglichen Anregungen für Ideensuchende im kreativen Prozess. Andererseits provoziert er allerlei Fragen, die nicht zuletzt um das Verhältnis von Form und Funktion kreisen. Es lag daher nahe, sich der Neuerscheinung aus der Perspektive unserer Serie Designgedanken zu nähern.

Was macht ein Ding zum gewöhnlichen (Design-)Gegenstand und ein anderes zum Kunstwerk? Ist es das Fehlen respektive Vorhandensein von kunstwissenschaftlich belegbaren inhärenten Qualitäten? Ist es der schöpferische Akt eines Genius, der beliebiger toter Materie quasi in alchemistischer Weise sublimierend Leben einhaucht? Oder ist es die Einordnung in den Kunst-Kontext – die Kanonisierung und Musealisierung? Hörte demgemäß Marcel Duchamps Schneeschaufel („In Advance of the Broken Arm“) in dem Moment auf, Werkzeug zu sein, als sie von ihm durch die bloße Auswahl in eine Skulptur transformiert wurde? Gibt es überhaupt eine exakte Grenze zwischen Utensil und Kunstwerk? Und wenn ja, wo genau verläuft diese – zum Beispiel bei einem Hocker (ebenfalls bereits von Duchamp in die Kunstwelt „entführt“) oder einem Stuhl?

Fragen über Fragen. Doch um es gleich vorwegzunehmen: Was Thor Heyerdahl einmal allgemein über Grenzen gesagt hat, trifft hier im Speziellen zu. Er behauptete, niemals eine gesehen zu haben. Von Ludwig Wittgenstein hingegen erhalten wir mehr Unterstützung. Die Bedeutung, so lernen wir von ihm, liegt im Gebrauch.

Design, das sitzt? Tom Dixon, Experimental Chair Design, 1980. © Patrick Goetelen

Ergonomische Beweise?

Sitzen Sie noch gut? Die Frage ist gar nicht so sehr im übertragenen Sinn gemeint – was gewiss aber auch passen würde – als vielmehr wörtlich. Wäre es nämlich so einfach, dass ein „Kunst-Stuhl“ sich vom ordinären Stuhl oder vom marketingtechnisch aufgewerteten „Design-Stuhl“ eindeutig dadurch unterscheidet, dass man auf dem einen im Gegensatz zu dem anderen bequem Platz nehmen kann, wären wir an dieser Stelle mit unseren Überlegungen an einem letztgültigen Ziel angelangt. Leider – oder vielleicht zum Glück – wird nicht jedes miserable Design automatisch dadurch zum Kunstwerk nobilitiert, weil es sich aufgrund von ergonomischen Zumutungen als Sitzmöbel disqualifiziert.

Eine vorletzte Frage sei gestattet: Gibt es nicht längst genügend unterschiedliche Interpretationen des Themas Stuhl? Oder anders gefragt: Ist das Sitzen nicht ausreichend erforscht, um endlich den einen ultimativen Stuhl zu konstruieren, der alle übrigen überflüssig macht, sodass sich Designende in aller Welt hiernach wichtigeren Aufgaben widmen können?

Mehr Stühle geht nicht: The Spirit of Chairs

Man wird davon ausgehen dürfen, dass eine derartige Vorstellung nicht eben zu den Wunschträumen von Thierry Barbier-Mueller zählt. Im Gegenteil besitzt der aus der Schweiz stammende Unternehmer eine der größten privaten Sammlungen von Stühlen und – man muss es wohl so nennen – stuhlförmigen Kunstwerken. Zwei Drittel der mehr als 650 Sammlerobjekte sind Einzelstücke, Prototypen oder limitierte, in Kleinserien hergestellte Exemplare. Reichlich Anschauungsmaterial für eine eindrucksvolle Ausstellung. Und für die aufregende Neuerscheinung aus dem Verlag Lars Müller Publishers namens „The Spirit of Chairs“.

Wer meint, schon alles gesehen zu haben, den belehrt The Spirit of Chairs mit ziemlicher Sicherheit eines Besseren. Vermittels einer beispielhaften Fülle von Entwürfen spürt der Bildband dem Geist – der Essenz – des Stuhls nach. Im definitorischen Sinne verbindet die teils klassischen, teils ans Karikatureske grenzenden Kreationen lediglich, dass es sich jeweils um etwas handelt, das sich gegen die Schwerkraft stemmt und verhindert, dass der Mensch auf dem Boden hockt.

Führt der Weg zum perfekten Sitzmöbel über einen Hin­der­nis­par­cours? Krijn de Koning, Stool, 2002. © Patrick Goetelen

Vielfalt ist Trumpf

Es wäre vorstellbar, mit den Aufnahmen aus The Spirit of Chairs eine künstliche Intelligenz nutzbringend zu füttern, um ihr wie einem Kind beizubringen, was unter dem Begriff „Stuhl“ zu subsumieren ist. So würden die Algorithmen es dann beispielshalber mit etwas zu tun bekommen, das sichtbar aus einem Einkaufswagen geformt wurde. Ebenso mit Formen, die an eine Löschwiege, an Wollknäuel, Mikado oder das Resultat eines Zimmerbrandes erinnern. Und mit vielen weiteren Faszinosa von namhaften Kunst- und Designschaffenden aus allen erdenklichen Materialien (Stoff, Beton, Metall, Holz, Plastik, Gummi und vieles andere mehr), die zum Teil die Grenzen des physikalisch Machbaren ausloten.

Kommen wir jedoch bei der Betrachtung der Schätze Barbier-Muellers einer Antwort auf die Eingangsfrage näher, wann ein Stuhl allein ein Stuhl ist – und wann ein Kunstwerk? Eher nicht. Möge das jeder für sich selbst entscheiden. Viel wichtiger ist, dass The Spirit of Chairs eine Inspirationsquelle darstellt, die man allen an Möbeldesign interessierten oder hiermit beruflich befassten Menschen nur wünschen kann. Denn natürlich existieren noch nicht zu viele verschiedene Stühle. Vielfalt ist ohnehin eine der schönsten Erfindungen. Sie gibt dem Leben erst den wahren Reiz; man sollte sie zelebrieren. Und noch eine abschließende Bemerkung: Obschon der Schwerpunkt von The Spirit of Chairs eindeutig in der bildlichen Dokumentation liegt, sind die wenigen enthaltenen Seiten Text (wahlweise ist das Buch in englischer oder französischer Sprache erhältlich) eine lohnende Lektüre, wenn nicht sogar ein für die Orientierung in diesem richtiggehenden Kuriositätenkabinett unverzichtbarer Wegweiser.

Wird so der Bogen zwischen Kunst und Design gespannt? Robert Wilson, Zeus Chair, 2002. © Patrick Goetelen

The Spirit of Chairs
The Chair Collection of Thierry Barbier-Mueller
Edited by Marie Barbier-Mueller
Foreword by Marie Barbier-Mueller
With contributions by Thierry Barbier-Mueller, Lorette Coen, Chantal Prod’Hom, Charlotte Savolainen-Mailler, Jamieson Webster, Robert Wilson
Design: Hubertus Design/Jonas Vögeli
22 × 30 cm, 384 pages, 927 illustrations
ISBN 978-3-03778-710-6 (bzw. 978-3-03778-711-3 für die französische Ausgabe L’Esprit de la chaise)

Weitere Informationen:
Lars Müller Publishers GmbH
www.lars-mueller-publishers.com

 
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