Mit dem Bildband Dimore Veneziane, erschienen bei bei Frederking & Thaler, will der Fotograf Werner Pawlok einen neuen Blick auf die von Overtourism geplagte Lagunenstadt Venedig vermitteln. Wir verraten, ob ihm das gelungen ist.

Im Unglück erkannte der römische Dichter und Philosoph Seneca einst eine Gelegenheit, die eigene Stärke zu zeigen. Während sich die Pandemie in den vergangenen zwei Jahren demgemäß überall zum Lackmustest für die Resilienz jedes einzelnen und die Fähigkeit zum Zusammenhalt ganzer Gesellschaften entwickelte, bot sie Werner Pawlok zeitgleich eine künstlerische Chance von der Sorte, wie man sie wohl bloß einmal im Leben bekommt. Der 1953 in Stuttgart geborenen Fotograf konnte Venedig – sonst das reinste Disneyland – quasi menschenleer und in völliger Stille erleben und die einzigartige Magie des New Yorks des Mittelalters in Aufnahmen von grandioser Eindrücklichkeit bannen. Sie liegen nun zusammengefasst in einem Bildband vor, der bei Frederking & Thaler erschienen ist und den Titel „Dimore Veneziane“ trägt.

Sorgen vor dem Verschwinden

Mit seiner frappierenden visuellen, haptischen und physischen Präsenz (in Zahlen ausgedrückt: mehr als vier Kilogramm) wird man Dimore Veneziane, das sei an dieser Stelle im Vorgriff auf ein Fazit gesagt, ohne Übertreibung als einen Grund dafür anführen dürfen, warum sich niemand Sorgen machen muss um das Verschwinden von auf Papier Gedrucktem. Die Furcht vor der Zerstörung des alten Venedigs hingegen – ob durch die Fluten des „Overtourism“ oder wegen des Anstiegs des Meeresspiegels – bleibt auch nach der unlängst geglückten Beilegung des Streits zwischen den nationalen Behörden und der UNESCO um die in Aussicht gestellte Einstufung Venedigs als gefährdetes Welterbe grundsätzlich bestehen.

Immerhin verhängte die Regierung aufgrund des wachsenden Drucks in Teilen der Lagune ein Durchfahrtsverbot für große Kreuzfahrtschiffe, die mit den von ihnen erzeugten Wellen und Abgaswolken besonders zur Schädigung der hölzernen Fundamente und Fassaden von Venedigs Centro Storico beigetragen haben. Die weniger gewordenen Einheimischen trieb diese Facette des kulturellen Raubbaus schon seit langem um.

Die Kunst, Venedig zu leben

Wie aber lebt es sich überhaupt in jener Stadt, die wie keine zweite in die Fänge der Tourismusindustrie geraten ist? Am liebsten gut, könnte man scherzhaft antworten. Manche der hier lebenden Menschen haben sich im Verlauf der Corona-bedingten Verschnaufpause gewisse Hoffnungen auf ein Ausbleiben der Rückkehr zum „ganz normalen Wahnsinn“ gemacht. Andere sind nicht so optimistisch. Wiederum andere schildern in Dimore Veneziane ihre Vision von einem lebenswerten Venedig von morgen, das an seine Vergangenheit anknüpft, die touristische Monokultur überwindet und das Handwerk und die Kreativität stärkt.

Werner Pawlok ist es gelungen, in Dimore Veneziane viele unterschiedliche Stimmen zu versammeln. Eine Hotelmanagerin ist darunter, ein Gastronom, ein Soziologe, mehrere Architekten, Autoren und Kunsthandwerker, ein Ruderbauer und eine Museumsdirektorin. Ihre Erfahrungsberichte und Vorstellungen von der Zukunft Venedigs werden jeweils in deutscher und englischer Sprache präsentiert. In einmalig prachtvollen Außen- und Innenansichten dokumentiert der fadengebundene Band ferner ihre vielfältige Kunst, Venedig zu leben und zeigt dabei so manches, über das sich Reiseführer üblicherweise ausschweigen.

Fazit

Die ephemere Natur seiner Kunstinstallation im deutschen Pavillion bei der Biennale von Venedig des Jahres 1997 kommentierte der Konzeptkünstler Gerhard Merz seinerzeit mit den Worten: „Die Erinnerung dauert ja länger. Zum Schluss ist die Welt im Kopf.“ Der Satz gibt ein gutes Motto ab für die Auseinandersetzung mit der unerfreulichen Verwandlung Venedigs in den letzten Jahrzehnten sowie für Bücher wie Dimore Veneziane. In einer intellektuell aus dem Ruder laufenden Welt, in der kurzlebige digitale Hohlheiten, Gerüchte und Anmaßungen namens Trends, Hypes und Posts den Takt vorgeben, gehören sie zu den Dingen, die uns mit der Ewigkeit verbinden.

Der in der Danksagung zum Ausdruck gebrachte Traum, dass Dimore Veneziane künftigen Besuchenden einen neuen Blick auf die Lagunenstadt vermitteln und „viele Künstler inspirieren kann, tiefer in das wirkliche Venedig einzutauchen“, geht sicher in Erfüllung. Werner Pawloks Fotos ziehen spielend jeden in ihren Bann, der nur entfernt für Ästhetik und kompositorische Maßgelungenheit empfänglich ist. Das Betrachten und Befassen dieses Bildbandes ist übrigens kein Trostpflaster für Daheimgebliebene. Hinsichtlich der Aufmachung und des Inhalts wird eine Erlebnisqualität geboten, die ihren eigenen Reiz und ihre eigene Berechtigung hat. Darin hebt sich Dimore Veneziane zudem mit einer solchen Klarheit von der Mehrzahl der zum Thema Venedig angebotenen Veröffentlichungen ab, dass es nahezu an eine Offenbarung grenzt.

Dimore Veneziane
Die Kunst, Venedig zu leben | The Art of Living Venice
ISBN: 978-3954163441
320 Seiten, 29,7 x 37,5 cm, gebundene Ausgabe

Weitere Informationen:
Frederking & Thaler
GeraNova Bruckmann Verlagshaus GmbH
www.verlagshaus24.de/frederking-thaler

 
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