Wer Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert verstehen will, muss Dinge im Kontext betrachten. So wie Architekturhistoriker Winfried Nerdinger mit seiner Neuerscheinung aus dem Verlag C.H.Beck.

Neu erschienen im Verlag C.H.Beck ist mit Winfried Nerdingers Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert die Gesamtbetrachtung einer von gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Umbrüchen strotzenden Zeit. Nachfolgend erfahren Sie, was unsere Eindrücke sind.

Jede nach Erkenntnisgewinn strebende Auseinandersetzung mit kulturell-technischen Phänomen bleibt ohne Einbezug gesellschaftlicher und geistiger Strömungen der jeweiligen Zeit ungenügend. In besonderer Weise gilt das für das Feld der Architektur. Betrachtet man etwa das Grabmal von Pharao Cheops aus der Perspektive der Naturwissenschaften, kommt man recht weit. Man versteht die Notwendigkeit der Wahl bestimmter Materialien und Neigungswinkel, zudem vielleicht teilweise bestimmte Anordnungsprinzipien. Niemals jedoch beantwortet das die ewige Frage: Wozu Pyramiden?

Der Zusammenhang entscheidet

Mit der Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert verhält es sich ganz ähnlich wie in unserem Beispiel aus dem Altertum. Wer Baustile und städtebauliche Aspekte zwischen beginnender Moderne und Postmoderne begreifen will, muss die historischen Bedingungen und den jeweils vorherrschenden Zeitgeist verstehen und berücksichtigen. Ein umfassendes Bild ergibt sich erst dadurch, dass alles zusammen kontextualisiert wird. Wobei Werte und soziale Belange eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen.


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Jemand, der sich dieser Aufgabe in Form einer Publikation gewidmet hat, ist Winfried Nerdinger. Man muss der Vollständigkeit halber hinzufügen: im Prinzip zum ersten Mal. Architektur und Städtebau werden von Nerdinger in seinem neuen Buch „Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert“ vor dem Hintergrund bahnbrechender gesellschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Entwicklungen beleuchtet.

Kurz zur Person, bevor wir einen Blick auf den Inhalt werfen. Nerdinger (Jahrgang 1944) ist unter anderem Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste sowie ehemaliger Professor für Geschichte der Architektur und Baukonstruktion an der TU München. Zahlreich sind die Veröffentlichungen des mehrfach ausgezeichneten Architekturhistorikers. Hierzu gehört beispielsweise seine Beschäftigung mit dem Bauhaus.

Reise durch ein äußerst bewegtes Jahrhundert

Von Kaiserreich und Erstem Weltkrieg über Weimarer Republik, NS-Herrschaft und Nachkriegszeit bis zu den Jahrzehnten der Teilung und der anschließenden Wiedervereinigung: Bei einer Reise durch ein so bewegtes Jahrhundert ist die Zahl der zu behandelnden Fragen schnell ausufernd. Sich hierbei nicht zu verzetteln, den roten Faden nicht zu verlieren, ist keine Kleinigkeit. Nicht nur haben sich im Laufe der betrachteten Zeit das Menschenbild und die politischen Verhältnisse mehrmals radikal verändert.

Auch entstanden mit dem industriellen und gesellschaftlichen Wandel ganz unterschiedliche und vielfach neue Anforderungen an das Bauen. Und nicht zuletzt eröffneten Innovationen bei Werkstoffen und Verfahren zuvor ungekannte gestalterische Möglichkeiten.

Kompendium und Who´s who

Das Spektrum von Winfried Nerdingers faktenreicher Darstellung beinhaltet repräsentative ebenso wie technisch-ökonomische Funktionen – bis hin zu verschiedenen Mischformen. Beschrieben wird zudem die Situation von Bauwirtschaft, Baupolitik und Berufsstand in den einzelnen geschichtlichen Phasen. Viele bekannte und weniger bekannte Stilbeispiele und Meilensteine begegnen der Leserschaft hier. Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Völkerschlachtdenkmal, Montagehalle der Rheinmetallwerke zu Düsseldorf, Hamburger Chilehaus, Bonner Bundeshaus, Hochschule für Gestaltung Ulm, Garchinger „Atom-Ei“, Münchener Olympiapark – sie alle aufzuzählen ist unmöglich.

Daneben hat man es mit einer Art Who´s who zu tun, das neben unbekannteren Akteuren natürlich zahllose illustre Namen wie Peter Behrens, Henry van de Velde, Bruno Taut, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, und Günter Behnisch enthält. Mitgeliefert wird nebenbei eine beispielhaft umfangreiche Bibliographie als Grundlage für die Vertiefung.

Schlussfolgerung

Die Neuerscheinung aus dem Verlag C.H.Beck ist insgesamt ein faszinierender Spiegel schicksalhafter Zeiten und Schlüssel zur Entstehung des heutigen architektonischen und städtebaulichen Bildes Deutschlands. Wer also bis in filigrane Details hinein wissen möchte, wie und warum Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert auf die bekannte Weise zustande kam, greift hier zu.

Angenehmer Nebeneffekt der Lektüre von Winfried Nerdingers Buch: Es stellt sich zwangsläufig ein tieferes Verständnis der Architektur der Gegenwart und der Notwendigkeiten für die Zukunft ein. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe. Zum einen ist die extreme Nachwirkung der Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts zu nennen. Zweitens trifft zu, was Winston Churchill einmal so treffend auf den Punkt gebracht hat: „Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen.“

Winfried Nerdingers Buch ist Teil der gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck ins Leben gerufenen Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung.

Winfried Nerdinger
Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert
GESCHICHTE, GESELLSCHAFT, FUNKTIONEN.
Verlag C.H.Beck
Hardcover (Leinen), 816 Seiten, 251 Abbildungen
ISBN 978-3-406-80710-7

Weitere Informationen:
Verlag C.H.Beck oHG
www.chbeck.de

 
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