Skeuomorphismus in der digitalen Welt: Der reichliche Einsatz von visuellen Metaphern wie Ordner- und Dateisymbol begründete einst den Erfolg der grafischen Benutzeroberfläche.

Wenn ein Entwicklungssprung im Hinblick auf das Design oder die Machart von Dingen groß genug ausfällt, kommt häufig die Stunde des Skeuomorphismus. Mit diesem sperrigen Kunstwort bezeichnet man gestalterische Lösungen, die durch visuelle Rückgriffe so etwas wie Vertrautheit im Unbekannten erwecken sollen. Dazu zählt, dass frühere höherwertige Werkstoffe oder Formgebungen ohne funktionellen Grund nachgeahmt werden. Eine rein ästhetische Angelegenheit ist Skeuomorphismus deshalb nicht. Mitunter spielt die Erleichterung der Bedienbarkeit von Dingen hierbei eine Rolle. Wir kommen gleich darauf zu sprechen.

Die Verwendung des Begriffs Skeuomorphismus ist bis ins späte 19. Jahrhundert belegt. Er setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern für Werkzeug beziehungsweise Behälter und Form. Um mit einem tatsächlichen Behälter als Beispiel zu beginnen, sei der elektrische Wasserkocher angeführt. Von seiner äußeren Gestalt her entspricht er in vielen Fällen bis heute dem traditionellen Teekessel für die Herdplatte.

Skeuomorphismus in der digitalen Sphäre

Ein Behälter, dem die meisten noch wesentlich öfter begegnen, existiert nur virtuell, erleichtert den Alltag aber ganz real. Die Rede ist vom Papierkorb bei Betriebssystemen. Als Mitte der 1980er-Jahre die grafische Benutzeroberfläche die Welt der Computer eroberte, lag das nicht zuletzt am reichlichen Einsatz von intuitiv erfass- und nutzbaren visuellen Metaphern für die Bearbeitung, Aufbewahrung und Organisation von Daten. Bislang hatte niemand eine bessere Bediendee als Ordner-, Dateisymbol & Co. sowie all die gestischen und heuristischen Skeuomorphismen wie beispielsweise das Scrolling.

Ein weiterer Fall von Skeuomorphismus innerhalb der digitalen Sphäre sind Schaltflächen, die dreidimensionalen Knöpfen ähneln. Erfreuten sie sich zu Beginn des Siegeszugs des World Wide Web großer Beliebtheit, gelten sie heutzutage als gestrig, weshalb man beim Webdesign andere Wege geht und Interaktionsflächen ein abstrakteres, flacheres Aussehen verleiht. Dieser Trend zum sogenannten „Flat Design“ hat sich in den letzten Jahren zusätzlich auf die Gestaltung von Logos ausgewirkt und allenthalben zu Redesigns motiviert. Gut möglich, dass diese Form der Gleichmacherei irgendwann wieder einen Retro-Trend auslöst. Es wäre alles andere als das erste Mal. Der Wandel ist bekanntlich das einzig Beständige auf der Welt.

Wenn Designenden ein Licht aufgeht

Retro ist ein gutes Stichwort für flammenförmige Glühbirnen und an Wachskerzen erinnernde Sockel. Ein klarer Fall von Skeuomorphismus. Hierdurch lassen sich klassische Leuchter frei von Stilbrüchen elektrisch betreiben. Nicht bloß für historische Interieurs ein echter Gewinn. Glühbirnen sind schließlich für gewöhnlich eher unansehnlich. Oder besser gesagt waren. Inzwischen werden LED-Leuchtmittel im Lichtdesign zunehmend offen gezeigt. Die spezielle sogenannte Filament-Technik, die Glühfäden in attraktiver Weise nacheifert, macht es möglich; ein weiteres Beispiel für Skeuomorphismus.

Ebenfalls im Dienste des schönen Scheins lässt Skeuomorphismus Plastikfolie wie Leder, synthetisches Langhaargarn wie flauschige Angorawolle und Spanplatten dank bedruckter Folie wie Echtholz wirken. Im Automobildesign ist Skeuomorphismus besonders verbreitet. Chrom-, Carbon-, Holz und Lederimitat sind aus Fahrzeugen nicht wegzudenken, denn alles soll möglichst hochwertig aussehen, darf in der Herstellung aber natürlich nichts kosten.

Skeuomorphismus als Lebensretter

Mag die Gestaltung von Oberflächen auch ein eitler Zeitvertreib sein – Skeuomorphismus kann durchaus elementar wichtige Zwecke erfüllen. Bis hin zum Schutz von Menschenleben. Weil beispielshalber Elektroautos und Elektroroller im Stadtverkehr nahezu lautlos unterwegs sind, können zu Fuß gehende Menschen sie leicht überhören respektive übersehen. Es ist naheliegend, derlei Gefährte sicherer zu machen, indem man künstlich Motorengeräusche erzeugt. Obschon es vergnüglicher wäre, hierfür das Geklapper von Pferdehufen einzusetzen.

Weniger sicherheitsrelevant sind die künstlichen Geräusche, welche Smartphones beim Fotografieren erzeugen. Sofern man die Funktion nicht abschaltet. Sie imitieren das mechanische Klicken analoger Kameras. Und das obwohl viele der Fotografierenden mit ihnen genauso wenig jemals in Berührung gekommen sind wie mit Wählscheibentelefonen. Dass die Tasten früher Tastentelefone gleichermaßen im Kreis angeordnet waren – wiederum ein Skeuomorphismus – ist fast in Vergessenheit geraten.

Fazit

Skeuomorphismus hat unzählige Gesichter. Wir konnten hier lediglich einige Aspekte aufzeigen, was hoffentlich sozusagen Appetit darauf macht, sich intensiver mit der Thematik zu befassen. Apropos Appetit: Manchmal geht Skeuomorphismus sogar durch den Magen. Man denke – je nachdem, wo man is(s)t – an vegane Fleischpflanzerl, Fridadellen oder Buletten. Interessanterweise treibt man großen Aufwand, um Lebensmittel nach etwas aussehen und schmecken zu lassen, das deren Zielgruppe ablehnt. Allerdings ist Design keine ausnahmslos mit wissenschaftlicher Exaktheit zu begreifende Angelegenheit. Vieles ist einfach Geschmacksache.

 
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