Exklusiv sprachen wir mit dem Designer Maximilian Mahal vom Studio Boost über Design als Design – im Gegensatz zu Styling – also als integraler Teil der Produktentwicklung. Außerdem ging es um gute Usability.

Interdisziplinarität und vernetztes Denken sind heutzutage in aller Munde. Neu ist die Idee aber keineswegs. Schon im Ruhrgebiet der frühen 1920er-Jahre begriff man, dass ohne die Verknüpfung von Know-how aus unterschiedlichsten Feldern der technisch-wirtschaftliche Fortschritt bald an Grenzen stoßen würde. Dass heute auch im Design die Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg als immer wichtiger erachtet wird, zeigt sich unter anderem daran, dass mit der VDI/VDID 2424 unlängst eine vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und dem Verband Deutscher Industriedesigner (VDID) erarbeitete Richtlinie vorgestellt wurde. Sie soll zu einer besseren Integrierung des Industriedesigns beitragen und definiert konkrete Schnittstellen zur Produktentstehung.

Der Designer Maximilian Mahal weiß ebenfalls sehr genau, dass Produktentwicklung und Produkt- respektive Industriedesign zusammengehören. Gemeinsam mit zwei Miststreitern betreibt er das 2018 gegründete Berliner Designstudio Boost. „Je früher wir involviert werden, desto substanzieller ist unser Beitrag“, sagen Mahal und sein Team selbst. Wodurch implizit zum Ausdruck gebracht wird, dass Design unendlich viel mehr ist als die Verschönerung von zuvor durch das Engineering erstellten Prototypen. Wir sprachen mit Maximilian Mahal über Design als Design – also über das, was Design von Styling unterscheidet. Und noch um ein anderes wichtiges Thema ging es: Usability. Dass einfache Bedienbarkeit kein Luxusproblem ist, sondern eine ernste und in vielen Fällen sicherheitskritische Angelegenheit, wissen Mahal und sein Team beispielsweise aus Projekten, welche Lösungen für Menschen mit Einschränkungen zum Gegenstand hatten.

CP: Herr Mahal, wenn im Alltag oder den Medien über Design gesprochen wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass in Wirklichkeit Styling gemeint ist. Haben Designende, hat vielleicht sogar die gesamte Designbranche ein Vermittlungsproblem?

Maximilian Mahal: Es ist schon auffällig, dass man Design hierzulande immer noch mit einem nachgelagerten und damit optionalen Verschönern assoziiert und nicht als integralen, ganz selbstverständlichen Bestandteil eines Entwicklungsprozesses begreift. Das ist auch insofern verblüffend, da in Deutschland ja global bedeutsame Beiträge zum Design geschaffen wurden. Ich kann hier aber auch nur eine Interpretation wagen. Die starke Technologiefokussierung hierzulande verschiebt die Gewichtung sicherlich hin zu Leistungsdaten und praktischer Funktionalität, anstatt zu gestalterischen Themen der ästhetischen Wirkung, der kulturellen Einbettung einer Technik, den emotionalen und sozialen Kontexten der Nutzerinnen und so weiter. Dinge, die Technik überhaupt erst nützlich machen.

Ein meiner Meinung nach ganz gewichtiger Grund ist auch, dass Design kein geschützter Begriff ist. Er kann damit beliebig angeeignet werden. Zum Vergleich: Sie können sich nicht einfach Architekt oder Ingenieur nennen, es kann sich aber jeder Designer nennen. Statt einer objektiven Definition gibt es ein diffuses Bild verschiedener Auslegungen. Dadurch bleibt es häufig im Subjektiven – auf der Geschmacksebene. Damit ist „Schön“ ihr Bewertungsmaßstab.

Es stimmt aber auch, dass wir Gestaltende ein Problem haben, den Wert unserer Arbeit zu artikulieren. Ein Designer, der auch noch darüber sprechen kann, ist eine Seltenheit. Otl Aicher hatte jetzt seinen hundersten Geburtstag. Ein sehr gutes Beispiel.

„Es ist sehr schwer bis unmöglich gestalterisch substanzielle Beiträge zu liefern, wenn die Grundkonfiguration der Produktform im Grunde falsch ist.“ – Maximilian Mahal

Meetingkabine Quattro und Telefonkabine Solo für Großraumbüros – von Boost für mute-labs entwickelt.

CP: Sie legen Wert darauf, bei der Entwicklung eines neuen Produkts möglichst früh, ja am besten von Anfang an zu Rate gezogen und beteiligt zu werden, sodass Ihr Know-how in jeden Aspekt einfließen kann. Können Sie unserem Publikum einmal grob einen typischen Entstehungsprozess beschreiben?

Maximilian Mahal: Das speist sich auch aus dem oben genannten Thema des nachgelagerten Verschönerns. Es ist sehr schwer bis unmöglich gestalterisch substanzielle Beiträge zu liefern, wenn die Grundkonfiguration der Produktform im Grunde falsch ist. Wir beginnen meist erst einmal mit einem Wissenstransfer. Zum Beispiel in Form eines Workshops, ausführlichen Gesprächen oder einer Besichtigung. Wir definieren eine gemeinsame Zielvorstellung, entdecken und evaluieren Potenziale und arbeiten gemeinsam auf die passende Produktform hin. Wir haben gemerkt, dass wir umso substanziellere Beiträge liefern können, desto umfassender unser Verständnis des Klienten ist.

Das führt dann zu einem anderen Verhältnis als dem eines Zulieferers. Wir werden eigentlich Kollaborateure; Mitglieder der Firma. Je komplexer das Produkt, desto notwendiger ist natürlich auch die Zusammenarbeit. Gestaltung entsteht bei uns eigentlich immer in wechselseitigem Austausch. Ein einfaches Beispiel: Bei den Telefonkabinen für Großraumbüros unseres Klienten mute-labs galt es trotz sehr straffer Produktionskosten ein Produkt zu schaffen, dass als hochwertig, souverän und allgemein gefällig erlebt wird. Das war nur in der engen Kooperation mit der Produktion möglich.

„Es hat auch geholfen, sich mal einen Tag eine Hand auf den Rücken zu binden.“ – Maximilian Mahal

Shortcut von Boost für ottobock übersetzt Steuersignale einer Prothese direkt in Computerbefehle.

CP: Kunden loben Ihre herausragende Expertise in puncto User Research und User Experience. Sie selbst schreiben, dass Sie „starke Hypothesen“ entwickeln und dafür Recherche-Erkenntnisse nutzen. Was bedeutet das im Detail und wie sorgt das für bessere Designergebnisse?

Maximilian Mahal: Ein gutes Beispiel ist unser FuE-Projekt „Shortcut“ mit ottobock: Das ist ein Add-On für eine Handprothese, die es Menschen nach Amputationen ermöglicht, ungehindert mit ihrem Computer umzugehen. Die gängigen Interfaces – Keyboard, Computermaus oder Touchpad – sind einst für die Feinmotorik der organischen Hand entworfen worden. Jetzt haben handamputierte Menschen natürlich genauso viel mit Computern zu tun wie jeder andere. Das gängige Paradigma in der Prothetik ist zwar die absolute Nachbildung der organischen Hand. Stand heute sind wir aber noch weit davon entfernt, dieses Ziel wirklich einzulösen. Die Prothesen liefern einfach die geforderte Feinmotorik noch nicht.

Shortcut übersetzt nun die vorhandenen Steuersignale einer Prothese direkt in Computerbefehle. Sie greifen quasi in den Computer. Manche erinnern sich vielleicht noch an die „Mother of all Demos“ von Douglas Engelbart, dem Erfinder der Computermaus – und damit der zweidimensionalen grafischen Benutzeroberfläche. Es war genau dieses Bild des Manuellen im Digitalen, das ihm erstrebenswert erschien.

Wenn Sie in der evolutionären Verbesserung technischer Details gebunden sind, weil Sie einem Konzept verbunden bleiben, verfolgen Sie womöglich eine langfristige Erfüllung und können keine revolutionären Paradigmenwechsel – wie zum Beispiel Shortcut – denken. Die Recherche ermöglichte es nah an den Nutzenden zu sein und damit einen unverstellten Blick auf deren alltägliche Notwendigkeiten zu bekommen. Dieser ist die notwendige Grundlage für Entwürfe dieser Art. Nur durch die intensive Begleitung der Zielgruppe in ihrem Alltag konnten wir uns dieser Problematik bewusst werden. Es hat auch geholfen, sich mal einen Tag eine Hand auf den Rücken zu binden. Die Produktform als quasi parasitäres Armband bildet dabei den alltäglichen, auch nebensächlichen Stellenwert dieser Tätigkeit ab.

CP: Seit Jahren ist bei der Gestaltung von Benutzerschnittstellen ein Paradigmenwechsel zu beobachten. Allenthalben verdrängen Touch-Oberflächen physische Bedienelemente. Bei Waschmaschinen mag das akzeptabel sein, doch wer sich auf der Autobahn durch verschachtelte Menüs navigieren, scrollen und gleichzeitig den Verkehr im Blick behalten will, wünscht sich möglichwerweise eher Knöpfe, die sich „blind“ bedienen lassen. Glauben Sie, dass es in dieser Hinsicht eine Renaissance geben wird oder ist der Zug abgefahren?

Maximilian Mahal: Das würde ich nicht ganz so allgemein sehen. Es gibt teilweise eine schwache Konzepttiefe im Interfacedesign, ja. Auch eine falsch verstandene Auffassung von Digitalisierung. Aber es gibt auch deutliche Entwicklungen hin zu Interfaces, die stärker physische Interaktionen einbeziehen. Bei den Programmierern sind wieder Keyboards wie die alten Cherry-Tastaturen angesagt, da das haptische Feedback für eine überwiegend schreibend tätige Person eben wichtiger ist.

Im Grunde ist das auch wieder eine Frage der adäquaten Form. Brauche ich an einem Bildschirmarbeitsplatz wie dem Auto, noch mehr Bildschirme, oder ist das eher kontraproduktiv? Ein Touchscreen will ja visuell überprüft werden. Über den Kontext kommt man zur Form. Wie soll sich die Benutzung einer Waschmaschine anfühlen? Möchte ich diese präzise programmieren, sprich viel Kontrolle ausüben und entsprechend präzises Feedback bekommen? Oder ist das in dem Fall etwas, das ich gerne an Automatismen delegieren würde? Vermutlich Letzteres. Touchscreens sind weit verbreitet, universell einsetzbar und lassen sich auch nachträglich überarbeiten. Sie sind quasi zu einer Interfaceplattform geworden. Es ist nicht unbedingt optimal oder inspiriert, Interfaces mit ihrer Hilfe anzulegen. Es ist aber risikoarm und naheliegend.

CP: In der Vergangenheit haben Sie sich intensiv mit dem Design von Produkten für Menschen mit körperlichen Einschränkungen beschäftigt. Was lässt sich dadurch sozusagen für die allgemeine Gestaltung lernen? Wo liegen Unterschiede, wo Gemeinsamkeiten?

Maximilian Mahal: In den Leitbildern und Qualitätsmaßstäben an einen gelungenen Entwurf gibt es keine Unterschiede. Ob Sie für einen Rollstuhlfahrer oder eine Motorradfahrerin entwerfen ist eigentlich egal. Beides sind spezifische Tätigkeiten mit jeweiligen Ansprüchen an Funktion, Komfort, Wahrnehmung und so weiter. Es ist also die Frage, für welche Zielgruppe sie entwerfen und ob ihr Entwurf bestimmte Einschränkungen berücksichtigt. Wenn es um weniger spezifische Objekte des täglichen Gebrauchs geht, können Sie exklusiv oder inklusiv entwerfen. Sie werden immer bestimmte Vorstellungen von Identität abbilden und damit manifestieren. Unterschiede liegen im Entwicklungsprozess von Medizinprodukten. Die Entwicklung medizinischer Produkte unterliegt höheren Auflagen und Zulassungsverfahren. Damit sind höhere Kosten und längere Zeitrahmen verbunden, die die empirische Entwicklung teilweise behindern. Das Gefüge aus Ärzten, Pflegern, Nutzenden, Krankenkassen und Technikerinnen und deren Anforderungen an das Produkt sind auch zu berücksichtigen.

„Wenn es sich um alltägliche Gebrauchsobjekte handelt, kann ich den klassischen Wertmaßstäben guten Designs wie einfache und klare Benutzung, Zurückhaltung und Langlebigkeit – ästhetisch wie technologisch – nur attestieren, dass sie immer noch Gültigkeit haben.“ – Maximilian Mahal

Bank und Hocker – speziell entwickelt zur Verwendung in den Telefonkabinen für mute-labs.

CP: Welche Rolle spielt für Sie emotionales Design? Geben Sie nüchterner Funktionalität den Vorzug oder ist das ein Thema für Ihre Arbeit?

Maximilian Mahal: Ich denke, es kommt darauf an, was ihr Konzept ist und wofür Sie entwerfen. Das ein Produkt seine versprochene Aufgabe zufriedenstellend erfüllt, ist für mich sicherlich eine Grundvoraussetzung. Wenn es sich um alltägliche Gebrauchsobjekte handelt, kann ich den klassischen Wertmaßstäben guten Designs wie einfache und klare Benutzung, Zurückhaltung und Langlebigkeit – ästhetisch wie technologisch – nur attestieren, dass sie immer noch Gültigkeit haben. Die Abwesenheit von Problemen erweckt vielleicht keine Euphorie, verhindert aber Frustrationen. Denken Sie an einen Wasserkocher, dessen Tülle so geformt ist, dass Sie immer daneben gießen oder sich am Dampf verbrennen. Ein Produkt, dass den utilitären Gedanken ernst nimmt, steht nicht im Weg, verlangt keinen hohen Mehraufwand und ermöglicht es mir, mich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren. Das ist also erstmal die Basisanforderung. Deswegen darf mich das Produkt aber auch in seiner Erscheinung und in seinem Umgang erfreuen.

Ein Beispiel: Das Studio Kilo Design hat mal eine Atemschutzmaske für Kinder entworfen. Ihre Form und Farbe lässt das auch erkennen. Hier ist der Spaß, die Maske zu tragen, ein ganz wichtiges Element, damit das Produkt angenommen wird. Jedes Produkt wird mehr oder weniger bestimmte emotionale Assoziationen wecken. Die Frage ist, ob Sie das bewusst mitentwickeln und ob das zweckdienlich ist oder eher ein aufgesetzter Effekt zur Verkaufssteigerung. Es gibt auch Produkte, bei denen die emotionale Wirkung einfach sinnvoller Schwerpunkt ist: Schmuck zum Beispiel.

CP: Erlauben Sie, nachdem wir viele Themen angesprochen haben, zum Schluss im Sinne eines Fazits eine weit gefasste Frage mit der Bitte um eine trotzdem kurze Antwort: Was ist für Sie gutes Design?

Maximilian Mahal: Die adäquate Formgebung menschengemachter Objekte. Das führt zu der Frage: Was ist im jeweiligen Kontext adäquat? Generell gilt: Erfüllung des Kernversprechens. Konzeptuelle Integrität. Materialtreue. Abwesenheit von Problemen. Bereicherung und Freude im Umgang. Ökologische und soziale Verträglichkeit.

CP: Herr Mahal, wir danken Ihnen für die spannenden und ausführlichen Einblicke in Ihre Arbeit und wünschen für die Zukunft viel Erfolg und weiterhin gute Einfälle.

Die Fragen stellte Michael Graef.

Weitere Informationen:
Boost GbR
www.studio-boost.com

 
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