Gehstöcke sind kaum jemals ausreichend gewürdigte Hilfsmittel im Sinne der Barrierefreiheit, Anzeigeinstrumente für Status und vieles mehr. Das Buch WALKING STICKS holt das jetzt nach. Das Bild zeigt das Cover der Neuerscheinung aus dem Hause Lars Müller Publishers.

Wie stellen Sie sich eine Person vor, der Sie guten Gewissens politische Verantwortung für Ihr Land und Ihr Leben übertragen könnten? Doch wohl bestimmt als geradlinig, ehrlich und verlässlich. Sie würden erwarten, dass sich so jemand nicht verbiegen lässt und auf der anschließenden Langstrecke genauso überzeugt wie im Wahlkampfreden-Sprint, oder? Vergleiche hinken bekanntlich (Vorsicht, Wortspiel!), das kurze Anforderungsprofil deckt sich allerdings ziemlich genau mit dem, was von einem guten Gehstock erwartet wird.

Dass in Bezug auf die Gestaltung dieses archaischen Objektes eine mittlerweile ähnliche und für manche überraschende Vielfalt an Positionen und Lösungsansätzen herrscht wie in der Politik, beweist eine englischsprachige Neuerscheinung mit dem Titel „WALKING STICKS“. Sie spiegelt eine Ausstellung bei der Triennale di Milano, kuratiert durch den japanischen Designer Keiji Takeuchi, die zahlreiche Gestalter, darunter beispielsweise Jasper Morrison, einlud, den Gehstock neu zu denken.


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Ein Konzentrat an Inspirationen

Als wir auf WALKING STICKS aufmerksam wurden, wussten wir augenblicklich: dieses Buch dürfen wir Ihnen nicht vorenthalten. Der Grund: Verschiedentlich schon haben wir in der Vergangenheit anhand bestens bekannter Dinge wie dem Schachspiel oder dem Klavier gestalterische Fragen erörtert. Mit dem Ziel, Bedingungen und Perspektiven aufzuzeigen sowie Anstöße für neue Ideen zu geben.


 
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Im Vorgriff auf eine genauere Beschreibung sei gesagt: WALKING STICKS genügt ebendiesen Ansprüchen famos. Der Band stellt angesichts seines überschaubaren Umfanges von lediglich 64 Seiten ein regelrechtes Konzentrat an Einblicken und Inspirationen dar. Er ist also kompakt genug, um ihn wahlweise auf Schreibtisch oder Nachttisch dauerhaft in Griffweite oder unterwegs immer dabei zu haben.

Von Gehhilfe bis Markenzeichen

Mit Macht auf sich vereinenden Personen ging dieser Text los. Zum Buchthema von WALKING STICKS passt das deshalb so hervorragend, weil Menschen sich zumindest in vergangenen Zeiten ungern mit leeren Händen in der Öffentlichkeit präsentierten. Gemeint ist – Sie ahnen es – nicht die von uns bereits aufgegriffene unvermeidliche Aktentasche, die der soeben mit seiner Regierungskoalition gescheiterte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland so unbeirrt mit sich trägt. Nein, es geht wiederum um Gehstöcke.

Stellen Sie sich spaßeshalber Winston Churchill vor. Was erblicken Sie vor Ihrem inneren Auge? Einen Mann im dreiteiligen dunklen Anzug, eventuell mit (Zylinder-)Hut, jedoch sicherlich mit Geh- beziehungsweise Spazierstock, nicht wahr? 1915, im Jahr als der spätere britische Staatsmann einen erheblichen Karriere-Rückschlag verkraften musste, machte Charlie Chaplin das zu gleichen Teilen schmückende wie stützende Werkzeug zum Markenzeichen für seine Paraderolle des „Tramp“ – und damit zu einer der bedeutendsten Requisiten der Filmgeschichte.

Von Insignie bis Waffe

Auch in einem völlig anderen Lebensbereich zeigt sich die bis heute ungebrochene symbolische Rolle von Stab und Stock. Man denke an hohe kirchliche Würdenträger, angefangen beim Pontifex. Dessen Ferula (lateinisch für Stock oder Rute) ist eine auf Petrus rekurrierende Insignie, die päpstliche Würde und Macht signalisiert. Zugleich verbinden sich mit dem Kreuzstab im modernen Medienzeitalter aber durchaus Bilder der Gebrechlichkeit. Oberster Hirte wird man nicht als junger Springinsfeld.

Nicht zuletzt wurden Spazierstöcke als Mittel zur Selbstverteidigung verwendet. Stockdegen mit im Schaft verborgener Klinge waren bis vor wenig mehr als hundert Jahren in gehobenen Kreisen recht verbreitet. Womit spätestens klar geworden sein sollte, dass die Auseinandersetzung mit Gehstöcken, Krückstöcken, Spazierstöcken oder Wanderstöcken (heutzutage als Nordic-Walking-Stöcke wieder ubiquitär) ein weites Feld im Hinblick auf Designstrategien eröffnet.

Von schnörkellos bis verspielt

Dementsprechend abwechslungsreich sind die in WALKING STICKS versammelten Beispiele. Sie reichen von Funktionalität in nüchternster, schnörkellosester Reinkultur bis hin zu spielerischer Bezugnahme auf religiöse, agrarische, orthopädische und kultische Ursprünge.

Der präsentierte bunte Strauß aus Ideen involviert sogar einen Entwurf, der den – hohlen – Stab als Vase für Blumen nutzt („Simple Gestures“, Julie Richoz). Ein anderer großartiger Einfall kombiniert Gehstock und Korb („Cestino“, Hugo Passos). Eine willkommene Lösung für die Herausforderung, nur eine Hand für das Tragen von kleinen Gegenständen frei zu haben.

© Foto: Delfino Sisto Legani | Triennale di Milano

Einige Arbeiten setzen auf traditionelle Werkstoffe wie Holz. Für andere wurde mittels neuartiger Materialien besonders geringes Gewicht bei hoher Stabilität erreicht.

Das kann kein Zufall sein

WALKING STICKS enthält Fotografien von Miro Zagnoli und wird abgerundet durch eine Einleitung von Keiji Takeuchi und ein Essay des Designkurators und -kritikers Marco Sammicheli zur kulturellen Signifikanz des Anzeigeinstrumentes für Status und gleichzeitigen Hilfsmittels im Sinne der Barrierefreiheit, das zuvor kaum jemals ausreichend gewürdigt worden ist.

Dass die Namen von sechs der insgesamt achtzehn beteiligten Designschaffenden den an einen umgedrehten Spazierstock erinnernden Buchstaben „J“ enthalten, mag man als Zufall abtun. Ist es ebenfalls Zufall, dass es ausgerechnet Lars Müller Publishers gelang, mit WALKING STICKS etwas auf die Beine zu stellen, das einerseits geradezu leichtfüßig überrascht, inspiriert, ja begeistert – während andererseits implizit so schwierige, zumeist verdrängte Themen wie schleichende gesellschaftliche Überalterung und der individuelle Verlust körperlicher Kraft und Geschmeidigkeit mitschwingen? Wir glauben nein.

Dockingstation für die Kreativität

Die Auseinandersetzung mit WALKING STICKS weckte bei uns Erinnerungen an das ebenso vorzügliche The Spirit of Chairs, das sich gleichermaßen als eine Art analoge Dockingstation für die Kreativität empfiehlt und somit typisch ist für das Vermögen von Lars Müller Publishers. Wir sagen das mit aller gebotenen Distanz, indes in einem Zustand schwärmerischen Staunens. Es läuft für den unabhängigen Projektverlag aus Zürich.

Übrigens: Dass sich das bewusst schmale, vertikale Format des Buches an die Beschaffenheit seines Gegenstandes anlehnt und das Piktogramm auf dem Cover überdies eine gedankliche Brücke zu Otto Neurath schlägt, mit dem man sich unlängst befasst hat, demonstriert die große Leidenschaft für das eigene Tun und den vorbildhaften Grad geistiger Durchdringung.

Ob künftig mit oder ohne Spazierstock – so darf es weitergehen. Wir sind gespannt auf die nächste Entdeckungstour.

WALKING STICKS
Herausgegeben von Keiji Takeuchi und Marco Sammicheli
Mit einem Essay von Marco Sammicheli
Englisch, Paperback, 12 × 25 cm
64 Seiten, 53 Abbildungen
ISBN 978-3-03778-778-6

Weitere Informationen:
Lars Müller Publishers GmbH
www.lars-mueller-publishers.com

 
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