Mit dem Faksimile von Otto Neuraths Modern Man in the Making bietet Lars Müller einen bereichernden Einblick in die Weltbetrachtung der 1930er und gibt zeitlose Anregungen für die visuelle Aufbereitung von Informationen.

Mit der Faksimile-Ausgabe von Otto Neuraths „Modern Man in the Making“ aus dem Jahre 1939 setzt Lars Müller Publishers ein eindrucksvolles Zeichen, wie unser Rezensent, „COLD PERFECTION“-Chefredakteur Michael Graef, findet. Und das nicht allein deshalb, weil das englischsprachige Buch eine aufschlussreiche Analyse der damaligen Weltsituation mit den Mitteln der von Neurath entwickelten figurativen Illustrationen liefert.

„Die Bilder erklären sich nicht von selbst“, ist einer der entscheidenden Sätze eines meiner Professoren aus dem Bereich Kunst- und Designwissenschaft, der mir aus dem Studium bestens in Erinnerung geblieben ist. Komplementär dazu lautete ein weiteres wichtiges Motto: „Man sieht nur das, was man weiß.“ Das stammt übrigens von Goethe. Und der hatte definitiv einen Punkt. Erst wenn wir mühsam die Bedeutung vieler einzelner Details gelernt und verstanden haben, erschließt sich uns das große Ganze.

Diese kurze, eigentlich auf komplexe Kunstwerke wie Gemälde bezogene Reminiszenz vorweggeschickt habend, richten wir den Blick auf Otto Neurath als den Grafiker und unter anderem zugleich Wissenschaftstheoretiker, der vor bald 100 Jahren mit Isotype (International System of Typographic Picture Education) eine wichtige Vorform der Piktogramme schuf. Sie sollte dabei helfen, Informationen und Wissen für alle zugänglich zu machen.

History matters!

Ihren ersten Einsatz hatten die zunächst „Wiener Methode der Bildstatistik“ genannten Vermittlungszeichen im von Otto Neurath gegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien. Das war in den späten 1920ern – und damit wenige Jahre bevor Neurath gezwungen wurde, sein Land aus politischen Gründen zu verlassen. Die auf einem umfassenden Demokratie- und Gerechtigkeitsbewusstsein fußende Arbeit Neuraths stand dem damaligen Zeitgeist freilich diametral entgegen.

Neuraths Flucht über mehrere Stationen führte ihn 1940 nach England, wo man ihn internierte. Er kam ein Dreivierteljahr später frei, nachdem sich Freunde und Kollegen – darunter kein Geringerer als Albert Einstein – für ihn verwendet hatten. Wie heißt es so richtig: „History matters!“ Das gilt für allgemeine Betrachtungen ebenso wie für das Grafik- und Kommunikationsdesign, wie man an dem Beispiel erkennen kann.

Modern Man in the Making

Einen Meilenstein bildet in dieser Hinsicht Otto Neuraths erstmals 1939 von Alfred A. Knopf herausgegebenes Buch „Modern Man in the Making“. Es führt uns in eine Zeit, in der sich eine regelrechte Wissensexplosion ereignete, woraus sich neue Herausforderungen für die Wissensvermittlung ergaben. Die daraufhin gefundenen Antworten wirken bis heute nach. Als einflussreicher Vorläufer der allgegenwärtigen Infografiken ist Modern Man in the Making eine davon.

Neuraths Buch beschreibt die Weltsituation der 1930er-Jahre mit den Mitteln der von ihm konzipierten figurativen Illustrationen entlang verschiedener Themenachsen. Neben anderen zählen hierzu Geschichte und Gegenwart, Modernismus, allgemeiner Zustand der Welt und Alltagsleben. Mit der vorliegenden Faksimile-Ausgabe bietet Lars Müller Publishers einen außergewöhnlichen und ausgesprochen bereichernden Einblick in die Weltbetrachtung dieser Zeit und gibt faszinierende – zeitlose – Anregungen für die visuelle Aufbereitung von Informationen.

Weitgehend unveränderte Aktualität

Durch Modern Man in the Making erhält die Vergangenheit für uns heute Lebende eine merkwürdige Präsenz. Sie ergibt sich bei aller Differenz im Hinblick auf Einstellungen und Bewertungen durch die weitgehend unveränderte Aktualität der verhandelten Themen. Bevölkerungswachstum, Nahrungsproduktion, wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitslosigkeit und Arbeitszeit, Immigration, Zuckerverbrauch pro Kopf, Zeitalter der Roboter, drohende Kriege – das klingt erstens allzu bekannt und bestimmt zweitens nach wie vor die Agenden.

Bemerkenswert ist, wie man trotz der prinzipiellen Sachlichkeit über manche Bildtafel stolpert, die Emotionen freisetzt. Für Schmunzeln sorgt etwa die Frage, was aus der 13. Etage geworden ist. Die Folgen des Aberglaubens, veranschaulicht mithilfe eines lückenhaften Hochhauses. An anderer Stelle wiederum macht die Visualisierung von Sterblichkeitsraten oder – im geschichtlichen Teil – eine Grafik zum Transport von Sklaven in die „Neue Welt“ unmissverständlich klar: Hinter der nüchternen Fassade der Statistik geht es letztlich immer um Menschen.

Otto Neurath
Modern Man in the Making
Herausgegeben durch Lars Müller Publishers (Reprint)
Gebundene Ausgabe, 21,2 × 26,6 cm
160 Seiten, 100 Illustrationen, englischsprachig
ISBN 978-3-03778-676-5

Weitere Informationen:
Lars Müller Publishers GmbH
www.lars-mueller-publishers.com

 
Anzeige