Bescheiden, uneitel und auf die zu leistende Arbeit fokussiert – besitzt Kanzler Scholz mit seiner Aktentasche die ideal in die Zeit passende Requisite? (Symbolbild)

Es sollte kein „kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin“ werden. Spätestens nach der unfreiwillig komischen Umschreibung dessen, was Olaf Scholz mit seinem Ukraine-Besuch vom 16. Juni 2022 nicht bezweckte, waren alle stilsicheren Menschen vorgewarnt. Man musste mit dem Schlimmsten rechnen. Es folgte zum Glück nur ein kurzer Fototermin frei von frivolen Zweideutigkeiten. Dafür jede Menge Unverbindlichkeiten rund um einen Bundeskanzler, der zur Zugreise nach Kiew im kurzärmligen Hemd antrat, was die Netzgemeinde an Busfahrer erinnerte und für Spott sorgte. Währenddessen immer fest im Griff: des Kanzlers rätselhafte, reichlich abgenutzte lederne Aktentasche. Mit ihr überzeugte Scholz in puncto Vintage und Nachhaltigkeit, riskierte aber in der Rubrik „staatsmännisches Auftreten“ einen weiteren Punktabzug. Doch wofür eigentlich?

Erst wenige Tage zuvor war im Rahmen des Thronjubiläums von Elisabeth II. in einem Video mit dem drolligen Bären Paddington das wohl größte Taschen-Geheimnis der Welt gelüftet worden. Hatte Olaf Scholz etwa wie die britische Jubilarin für Notfälle ein Marmeladenbrot mit dabei? Oder ging es lediglich darum, mit der Aktentasche in der Hand zu kaschieren, dass der Kanzler trotz all der warmen Worte der Solidarität mit leeren Händen in die Ukraine gekommen war? Oder noch anders gefragt: Ist die Scholz’sche Aktentasche vielleicht sogar eine ideal in die Zeit passende Requisite?

Die Aktentasche als Symbol des Zupackens oder Insigne der Ohnmacht?

Wenn Sie jetzt sagen, das Thema Ukrainekrieg sei für derlei oberflächliches Beschauen zu Ernst, dann antworten wir: Recht haben Sie! Deshalb darf man sich trotzdem nicht durch die Fassade des Habitus von Scholz täuschen lassen. Diese und seine Aktentasche sind nämlich bei aller scheinbaren Geworfenheit eines mit Sicherheit nicht: ungesteuerte Zufallsprodukte ohne Intention. Bescheiden, uneitel und auf die zu leistende Arbeit fokussiert – die plötzliche Kongruenz zwischen seinem Stil und den Erfordernissen der Welt nach der Zeitenwende ist womöglich auch für Olaf Scholz selbst erstaunlich. Weil niemand die steigende Flut sehen wollte, steht uns im Anschluss an ein jahrzehntelanges Leben auf einer Insel der Glückseligkeit das Wasser bis zum Hals. Höchste Zeit, die Ärmel hochzukrempeln. Womit sich Scholz dank kurzer Ärmel nicht aufzuhalten braucht.

Der deutsche Konzeptkünstler und mehrfache Documenta-Teilnehmer Gerhard Merz erklärte einmal, dass Inhalt durch Form erträglich wird. Manchmal ist es allerdings umgekehrt. Will sagen: Eine großspurige Selbstinszenierung in der Manier des Cohiba rauchenden und Brioni-Anzüge tragenden Scholz-Vorgängers und Duzfreunds „lupenreiner Demokraten“ wäre heute für einen deutschen Bundeskanzler unangemessen, ja unerträglich. Wir werden erleben, ob die Aktentasche von Olaf Scholz zum Symbol für den Aufbruch im Sinne der Beantwortung der gegenwärtigen Herausforderungen wird oder als eine Art Insigne der Ohnmacht in die Geschichte eingeht.

 
Anzeige