„I love my time“ steht in Versalien in der oberen linken Ecke einer ansonsten leeren monochromen Leinwand zu lesen. Das breitformatige Bild stammt aus dem Jahre 1980. Geschaffen hat es der deutsche Konzeptkünstler Gerhard Merz. Zu diesem Zeitpunkt ist die Lakonie banaler, sloganartiger Statements ein für ihn erträglicher, gangbarer Weg zu Bildern, denen er trauen kann, bei denen er die Kontrolle hat über nicht gemeinte, ungesteuerte Inhalte, die er ablehnt. Atelier und Chemielabor ähneln einander mitunter sehr.
Originalität ist hingegen für Merz bei der Arbeit im „Kunstlabor“ prinzipiell kein vorrangiges Ziel. Warum auch? „Kunst“, so heißt es bereits in Adornos Ästhetischer Theorie, „will das, was noch nicht war, doch alles, was sie ist, war schon.“
Laborunfall der Kunstgeschichte?
Merz fand deutlichere Worte als der Philosoph der Frankfurter Schule. Der Originalitätsgedanke in der Moderne habe alles zerstört, konstatierte er und sprach von „Absonderlichkeiten“, mit denen sich Künstler profilieren müssten, um von ihrer Arbeit leben zu können.
Wie um dem vierfachen Documenta-Teilnehmer (1977, 1982, 1987 und 1992) Recht zu geben, degradierte sich 2022 die einst stolze weltweite Leitmesse für Gegenwartskunst zum Forum für unsägliche antisemitische Schmierereien. Man könnte, um den Vergleich von eben aufzugreifen, von einem Laborunfall sprechen. Hätte die würdelose Reaktion der Verantwortlichen nicht den Verdacht genährt, dass hier Grenzen verschoben werden sollten.
Herr seiner Sinne
In Bezug auf intentionales Verhalten und das Verhältnis von Form und Aussage von Bildern hat Gerhard Merz übrigens einmal erklärt, man sei Herr seiner Sinne und träfe Entscheidungen für den Inhalt.
Eine Verallgemeinerung der These des 1947 nahe München in Mammendorf geborenen Sohns eines Architekten scheitert freilich daran, dass die wenigsten mit einem vergleichbar hohen Bewusstsein für das eigene Tun in Relation zum Weltganzen ausgestattet sind.
Originalität? Fehlanzeige!
Jenseits der Frage der Absichten hinter den in Kassel 2022 gezeigten Abscheulichkeiten sei gesagt: Es herrschte eine völlige Abwesenheit von Originalität. Auf formell langweiligste Weise wurden die dümmlichsten und verachtenswürdigsten Reflexe perpetuiert, zu denen Homo sapiens überhaupt fähig ist.
Es ist daher mitnichten erforderlich, von teuflischem Kalkül auszugehen, um in Faust II auf ein zu dem Documenta-Skandal passendes Wort von Mephistopheles zu stoßen. Dieser stellt ab Vers 6861 fest: „Wer lange lebt, hat viel erfahren, / Nichts Neues kann für ihn auf dieser Welt geschehn.“
Fortschritt – eine Illusion?
Die Angelegenheit dürfte Goethe stark beschäftigt haben. Einerseits findet sich ebenfalls in der Tragödie zweiter Teil (Vers 6809 f.) ein zusätzliches Zitat, das wie gemacht ist, um es in diesem Kontext zu präsentieren: „Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, / Das nicht die Vorwelt schon gedacht?“
Andererseits ist von dem Geheimrat der Satz überliefert: „Die jetzige Generation entdeckt immer, was die alte schon vergessen hat.“
Wer hierin eine Absage an die Idee einer kulturellen Aufwärtsbewegung erkennt, muss bei einem Hinweis von Gerhard Merz, gegeben 1987 im Rahmen eines Gesprächs mit Kunstforum International, besonders genau aufpassen: „In der Kunst gibt es keinen Fortschritt. Die Kunst ist ein permanenter Stillstand und sie repräsentiert immer wieder das gleiche.“
Designer gegen den Wahnsinn
Merz versetzt Kunstschaffenden scheinbar einen Schlag. Im selben Atemzug folgt allerdings Entwarnung: „Aber es braucht immer wieder neue Erscheinungsformen, um eine Parallelität mit dem zu erreichen, was Menschen außerhalb der Kunst wissen.“
Wer mag, kann aus den Worten von Merz Trost oder einen Auftrag ableiten. Jedenfalls zeigt sich, dass es neben Originalität noch andere Dinge gibt, auf die es ankommt. Dafür ist es unerheblich, ob man sich in der Sphäre der Kunst bewegt oder mit Design befasst.
Interessant ist, dass Produktgestalter, indem sie versuchen, eine Sache nutzbar, verstehbar, sicher und erstrebenswert zu machen, im Prinzip ständig dieselben Prozesse wiederholen und paradoxerweise dennoch laufend zu neuen Ergebnissen kommen. Sie widerlegen dadurch quasi eine bekannte Definition von Wahnsinn, die entgegen kursierenden Gerüchten wohl nicht auf Einstein zurückgeht.
Lieber gut gefälscht als schlecht erfunden?
Was den Aspekt der Originalität respektive ihres Fehlens betrifft, empfiehlt sich im Designkontext äußerste Vorsicht. Dieser involviert rechtliche Fragen des Patent– beziehungsweise Gebrauchsmusterschutzes. Womit keineswegs behauptet werden soll, Kunstfälschung sei neuerdings erlaubt.
Wie die Beschäftigung von Gerichten mit einer von kultureller Aneignung lebenden Kunstrichtung namens „Appropriation Art“ gezeigt hat, ist es indes unter Umständen akzeptabel, wenn es sich bei einzelnen Werken um nahezu identische Reproduktionen ihrer Vorbilder handelt. Und wer später zur Welt kommt, findet als schöpferisch Tätiger umso mehr Inspirierendes vor.
Wir müssen nur wollen
„I love my time“, kann man da im Rückgriff auf den Anfang eigentlich nur sagen. Einen Preis für Originalität bringt die Feststellung zugegebenermaßen nicht ein. Schon allein deshalb, weil niemand sich seine Epoche aussuchen kann.
Daraus folgt, dass man lediglich versuchen kann, für die jeweilige Gegenwart angemessen das Notwendige zu tun, wie Merz es im selben besagten Interview von 1987 ausgeführt hat. In dem Zusammenhang gab er auch seiner Überzeugung Ausdruck, dass der Künstler in diesem Sinne – sofern sein Bewusstseinsgrad hierfür ausreicht – nicht vollkommen frei ist, sondern eine dienende Rolle spielt.
Wer das akzeptiert, darf seine Zeit ruhigen Gewissens lieben und sich selbst (in den Immanuel Kant fälschlich zugeschriebenen Worten) sagen: „Ich kann, weil ich will, was ich muss.“
Herzlichst
Michael Graef
Chefredakteur und Mitbegründer von COLD PERFECTION
Bildhinweis:
Das Titelbild entstand unter Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz