Hinauf zur Perfektion führt ein mühevoller Weg. Das wäre halb so schlimm, wüsste man nicht von vornherein, dass sich das Ziel nie erreichen lässt. Was keineswegs bedeutet, dass man es sich im Basislager bequem machen sollte, um ein Bild aus dem Alpinismus zu verwenden. Dieser Eindruck drängt sich beispielsweise auf, wenn man einen genauen Blick auf die Zugbeschriftungen der Deutschen Bahn wirft. Leider hat man hierfür am wenigsten Zeit, wenn es wirklich zählt. Just aus diesem Umstand lässt sich indes ein Designziel ableiten.
Zugbeschriftungen sollen blitzschnell erfassbar sein. Auch aus der Entfernung. Und richtig, die Realität ist eine andere. Obschon die zur Verfügung stehende Außenfläche eines ICE-Wagens lächerlich groß ist, entschied man sich bis heute dagegen, sie für so profane Zwecke wie das Anbringen vernünftig dimensionierter Wagennummern zu nutzen. Diese muss man beinahe wie Trüffel suchen – auf relativ winzigen Displays an den Türen. Groß genug erscheinen sie einzig dann, wenn man unmittelbar vor ihnen steht.
Wo bin ich – und wenn ja, warum?
Es fühlt sich merkwürdig an, auf selbstverständliche Dinge hinzuweisen. Wie sich zeigt, muss das ab und an geschehen. Dabei ist es mitnichten so, dass bei der Deutschen Bahn niemals groß gedacht wird. Das beweist schon die Kenntlichmachung der Bordrestaurants. Darf man unterstellen, dass das deshalb so gut geklappt hat, weil dadurch zusätzlicher Umsatz generiert werden soll?
Eine völlig andere Frage als die Nahrungsaufnahme treibt das Gros der Fahrgäste an der Bahnsteigkante um. Falls man einen Sitzplatz reserviert hat und es nicht egal ist, wo man einsteigt. Wir wollen an sich nicht auf die kundenfeindliche Regelung eingehen, dass ein teures ICE-Ticket – zumindest theoretisch – lediglich einen Stehplatz inkludiert. Nur so viel: Man stelle sich selbiges etwa für Flugzeug oder Taxi beziehungsweise Uber-Cab vor. Geht nicht? Ganz recht! Stehplätze wären hier verboten, im ICE bei Tempo 200 bis 300 aus Behördensicht offenbar vollkommen okay.
Weltfremd, doch immerhin konsequent
Zurück zum eigentlichen Thema. Hat man einen Sitzplatz kostenpflichtig gebucht, spricht einiges dafür, ihn aufzusuchen. Los geht es stets damit, dass man am Bahnsteig herauszufinden versucht, wo mit dem Halt des entsprechenden Wagens zu rechnen ist. Beim Einfahren heißt es dann gut aufpassen. Oder wahlweise das Fernglas zücken. Sportlich wird es, wenn sich die Bahn für eine abweichende Wagenreihung entschieden hat. Wie heißt es so schön: Bewegungsmangel ist das neue Rauchen.
Nachdem wir uns nun gedanklich den Displays an den Wagentüren mit den Wagennummern genähert haben, fragen wir ohne jeden Spott: Sind die an dieser zum Verzweifeln weltfremden Entscheidung Beteiligten jemals aus ihrem unterirdischen Labor herausgekommen?
Ein kluger Schachzug
Vielleicht aus Gründen der Konsequenz setzen sich die Unzulänglichkeiten bei der Beschriftung im Inneren der Züge fort. Das betrifft sicherheitsrelevante und mit dem Service in Verbindung stehende Aufkleber respektive Aufdrucke gleichermaßen – sowie bislang Dinge wie Sitzplatznummern. Ein kleiner demografischer Hinweis am Rande: Hierzulande nähert sich das Durchschnittsalter allmählich dem Renteneintrittsalter. Ein wenig mehr Rücksicht auf Millionen Menschen mit abnehmendem Sehvermögen und schwindender Beweglichkeit wäre ein kluger Schachzug.
Interessant und hinsichtlich der Festlegung interner Schwerpunkte aufschlussreich ist, dass die Schriftgröße der für Fahrgäste vorgesehenen äußeren Zugbeschriftungen ungefähr jener entspricht, die für die zur Wartung benötigten Angaben im untersten Bereich der Waggons gewählt wurde. Bloß wird das Personal aus dem Effeff wissen, wo was zu finden ist. Im Zweifelsfall wird es sogar für das Suchen entlohnt.
Selbstdarstellung versus Kundenpflege
Grundsätzlich sei gesagt, dass wir bei der Beurteilung gestalterischer Lösungen immer wieder feststellen, dass unbestreitbare Prinzipien verletzt und falsche Prioritäten gesetzt werden. Häufig kümmert man sich zu allererst um die Selbstdarstellung und Inszenierung der eigenen Marke. Die wesentlich kompliziertere Kundenpflege wird stattdessen nicht selten hintangestellt. Manchmal wiederum ist überhaupt kein Problembewusstsein vorhanden.
Freilich können Designfehler überall und jedem passieren. Umso wichtiger sind Einsicht und schnelles Nachbessern. Ersteres ist in unserem Beispiel fraglich. Letzteres ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Über mehrere ICE-Generationen hinweg wurde bis heute teilweise beharrlich ignoriert, was sich im Design-Grundstudium lernen ließe.
Design statt Styling
Zur inzwischen fast sprichwörtlich schlechten allgemeinen Servicequalität der Bahn mag das übrigens passen, kann jedoch nicht richtig sein. Unser Ratschlag lautet daher: Man sollte nicht auf diejenigen hören, die Design mit Styling verwechseln und ausgerechnet bei Zugbeschriftungen möglichst dezente Lösungen bevorzugen. In Umkehrung eines alten Mottos gilt hierbei: Mehr ist mehr.
Wer jetzt enttäuscht ist, nicht ein fertiges Konzept präsentiert bekommen zu haben, sei darauf hingewiesen: Unsere Reihe „Designgedanken“ will primär Denkanstöße geben, indem sie die entscheidenden Fragen stellt. Und trotzdem es auf der Welt zweifellos wichtigere Herausforderungen gibt als das Design von Zügen, würden wir uns freuen, bald über Fortschritte berichten zu können. Als eine der besten Erfindungen aller Zeiten hätte es die Eisenbahn verdient, wieder großartig gemacht zu werden.
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