„All the Cokes are the same and all the Cokes are good“, sagte einst Andy Warhol. Die industrielle Massenfertigung als großer Gleichmacher neigt sich dem Ende zu. Was sind die Folgen von Individualisierung und Losgröße eins für alle?

Hundert Jahre nach ihrer Einführung neigt sich die herkömmliche industrielle Massenproduktion als großer Gleichmacher dem Ende zu. Losgröße eins zum Preis von Massenware wird bald Normalität. Die neuen technologischen Möglichkeiten werden nicht nur die industrielle Wertschöpfung und die Erwartungen der Konsumenten verändern, sondern auch zu gravierenden gesellschaftlichen Umbrüchen führen.

„Self-expression is individuality, and our individuality is our self, which ought to be our chief concern.“ – Ernest Dimnet

„I am unique.“ – Roboter Sonny aus dem Film I, Robot

Neben Siebdrucken von Coca-Cola-Flaschen als Schlüsselwerke der modernen Kunst verdanken wir Andy Warhol auch die soziologische Erkenntnis von der egalitaristischen Rolle des Erfrischungsgetränks: „A Coke is a Coke and no amount of money can get you a better Coke than the one the bum on the corner is drinking. All the Cokes are the same and all the Cokes are good.“ [1]

1893 ließ der Apothekengroßhändler Asa Candler die Marke Coca-Cola schützen. Im selben Jahr, in dem Henry Ford damit begann, Experimente mit Verbrennungsmotoren anzustellen, die nach allerlei Irrungen und Wirrungen im berühmten Modell T mündeten, mit dem Ford das Zeitalter der industriellen Massenfertigung einläutete und die USA ähnlich überschwemmte, wie Candler mit seiner braunen Brause.

Individualismus als Bedrohung

Bis 1972 blieb die „Tin Lizzy“ das meistverkaufte Auto der Welt. Ihr an die ubiquitäre Cola erinnernder Einheitslook war keineswegs Fords Ignoranz gegenüber Kundenwünschen geschuldet: Schwarze Farbe trocknete am schnellsten – Zeit ist Geld! Der Fordismus war ökonomisch nur lebensfähig, wenn große Stückzahlen identischer Waren produziert wurden.

Was, wie der britische Dokumentarfilmer Adam Curtis 2002 in „The Century of the Self“ [2] beschrieben hat – einer filmischen Analyse des politischen, soziologischen und ökonomischen Einflusses der Theorien Sigmund und Anna Freuds sowie des Freud-Neffen und Public-Relations-Pioniers Edward Bernays –, perfekt zu einer vom Konformismus geprägten Gesellschaft passte.

Der Wunsch nach individuellem Ausdruck stellte für ein derart unflexibles System hingegen eine veritable Bedrohung dar.

Megatrend Individualisierung

Hundert Jahre danach haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse gründlich geändert. Gleichzeitig stehen mit Additiver Fertigung, künstlicher Intelligenz und fortgeschrittener Robotik Technologien zur Verfügung, die die herkömmliche Industrieproduktion als großen Gleichmacher Schritt für Schritt ablösen und Losgröße eins zum Preis von Massenware ermöglichen.

Natürlich werden die neuen Möglichkeiten die Erwartungen der Konsumenten ändern – und vice versa: Megatrend Individualisierung als Henne-Ei-Problem.

Mass Customization

Andeutungen einer Welt, in der Verbraucher als Impulsgeber respektive Dirigenten den gestalterischen Prozess beeinflussen oder gar lenken, existieren freilich schon länger. Ein prominentes Beispiel dafür ist „NikeiD“, die Individualisierungsplattform des US-Sportartikelherstellers. Nur beschränkt sich das Ganze bislang darauf, vorgegebene Elemente in verschiedenen Farben zu mixen. Das hat mit Maßschuhen in etwa soviel zu tun, wie der Genuss von Cola mit Fitness. Einzig der im Gegensatz zu Standard-Versionen deutlich höhere Preis erinnert daran. Strapaziert wird zusätzlich zum Geldbeutel die Geduld der sich an „instant delivery“ gewöhnenden Kunden, da die Produktion in Asien – wo noch klassisch in Handarbeit produziert wird – zu Lieferzeiten von mehreren Wochen führt.

Während Handarbeit gewöhnlich eher mit Luxusgütern assoziiert wird, ziehen für die (asiatische) Billigproduktion mit Mass Customization als Ausfluss von Industrie 4.0 am Horizont dunkle Wolken auf.

Renaissance der Industrieproduktion

Es ist knapp zwanzig Jahre her, dass Nike-Gründer Phil Knight dem sich als Anwalt seiner arbeitslosen Mitbürger gerierenden US-Filmemacher Michael Moore weiß machen wollte, dass niemand in den USA mehr Lust habe, Schuhe zu nähen [3].

Die experimentelle Speedfactory [4] des Nike-Erzrivalen Adidas zeigt unterdessen, dass eine Renaissance der Industrieproduktion durch Reshoring in die Ursprungsländer zwar in greifbare Nähe rückt, als Jobmotor allerdings ein Totalausfall werden dürfte: Ein raffiniert orchestriertes Zusammenspiel von weitgehend autonom agierenden Maschinen lässt Sportschuhe innerhalb weniger Stunden entstehen. Vor Ort – die zeitraubende Reise im Schiffscontainer entfällt.

Wandel der Wertschöpfung

Kein Wunder, dass sich beispielsweise der Logistikriese UPS auf den drohenden Verlust eines Teils seines Transportgeschäfts vorbereitet, indem er verstärkt in 3D-Druck investiert [5].

Wenn Produkte oder Vorprodukte zunehmend aus dem 3D-Drucker kommen und Produktion als Service überall, jederzeit und von jedem genutzt werden kann, bewirkt das einen tiefgreifenden Wandel der industriellen Wertschöpfung: Der Stellenwert der Produktion innerhalb bisheriger Wertschöpfungsketten nimmt ab – zugunsten von Produktentwicklung beziehungsweise Design sowie Nutzung und Service.

Mit dem Wegfall aufwendiger Formenherstellung und der Entbehrlichkeit teurer Spezialmaschinen ändert sich ganz nebenbei auch die Relevanz des Besitzes der Produktionsmittel als bestimmender Faktor gesellschaftlicher Machtverteilung – dem Zentralmotiv jahrhundertealter ideologischer Diskurse.

Das Produkt als Service

Was interessanter Weise parallel läuft zur Abnahme der Bedeutung des Besitzes von Konsumgütern: Immer mehr Produkte werden von ihrem Nutzwert her begriffen, statt von der Frage, wem sie gehören.

Bei Automobilen ist der Wandel mit am stärksten. Jungen Menschen sind sie als Statusobjekte, für die man Jahre seiner Lebenszeit in Form von Arbeit opfern sollte, kaum noch zu vermitteln. Eine erschreckend ineffektiv gewordene Verkehrsinfrastruktur ist einer der Gründe. Die einstige „Freude am Fahren“ hat sich in einen immobilen Albtraum aus Zeitverlust und Stress verwandelt.

Bei Haushaltsgeräten würde das zu sofortigen Reklamationen führen. Übrigens fängt in diesem Marktsegment das Paradigma vom Besitz als Grundlage für die Nutzung ebenso an zu bröckeln. Erste Hersteller sind dabei, Mietmodelle anzubieten [6] – Versandhändler wittern ebenfalls ein Geschäft [7].

Wem gehört die Marke?

Noch ein dritter Aspekt beim Thema Besitz ändert sich: Wird Individualität wichtiger, bekommt die Identifikation mit den Dingen, mit denen wir uns umgeben, mehr Gewicht. Was für Unternehmen, die sich rücksichtslos verhalten, desaströse Folgen haben kann. Entsprechend lang ist die Liste derer, die schmerzvoll erfahren mussten, dass die eigene Marke ihnen nicht länger alleine gehört – wenngleich selbstverständlich nicht im juristischen Sinne.

Ein Modeunternehmen, das nicht zur anvisierten Zielgruppe jugendlich durchtrainierter Sonnyboys und -girls zählende Personen als nicht würdig bezeichnet, Produkte seines Labels zu tragen, kann dank Social Media binnen Stunden die mühsam aufgebaute Marke nachhaltig beschädigen, wenn nicht zerstören [8]. Und selbst wesentlich mächtigere Großkonzerne, die Milliarden in Image-Politur investieren können, kommen nicht mehr so leicht mit zerstörerischen Geschäftspraktiken durch. Ein Beispiel von vielen: Nestlé und das Thema Palmöl [9].

Eine echte Chance für Unternehmen, bei denen zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht Lücken von tektonischem Ausmaß klaffen. Denn bisweilen müssen die in Markenslogans und Statements zur Corporate Social Responsibility behaupteten Werte gut informierten Konsumenten zynisch vorkommen. Vielleicht ist das alles aber lediglich ein Missverständnis …

Jeder Mensch ein Künstler?

Ein fortgesetztes Missverständnis aus dem Kontext der Kunst hat seinen Ursprung im legendären Diktum von Joseph Beuys, wonach jeder Mensch ein Künstler sei. Tatsächlich ging es dabei weniger um das Hervorbringen von Artefakten und deren museale Einordnung und Kanonisierung, als vielmehr um die evolutionäre Befähigung und das Grundbedürfnis des Menschen, sich selbst durch kreatives Handeln zu verwirklichen sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse mitzugestalten.

Warhol hingegen, gewissermaßen Beuys künstlerischer Gegenpol, kokettierte häufig mit der Idee, eine Maschine sein zu wollen. Er hätte am liebsten aus seinen Bildern alles Individuelle getilgt – und alle Lesbarkeit ihres Hergestelltseins. (Bloß war all das nicht zuletzt Teil der perfekt betriebenen Selbstinszenierung respektive Vermarktung des früheren Werbegrafikers.)

Selbstverwirklichung und das Recht auf Partizipation

Erst die Perfektionierung der digitalisierten Produktion – eine am Endpunkt ohne Menschen auskommende, omnipotente Maschinerie, an der Warhol womöglich großen Gefallen gefunden hätte – versetzt paradoxerweise eine maximale Zahl von Menschen in die Lage, für sich die größtmögliche Verwirklichung individueller Vorstellungen zu erreichen. Zumindest bei konsumierbaren Produkten.

Die Voraussetzung dafür ist jedoch das Recht auf Partizipation, das bis dato vorrangig mithilfe von Geld als Entgelt für Arbeit geregelt wird. Die weltweit steigende Zahl arbeitsloser Reicher – sogenannte „Rentiers“ – ist lediglich die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Stimmen, die vom baldigen Ende der Erwerbsarbeit künden, weil Roboter und künstliche Intelligenz nicht nur Fabrikarbeitern an den blauen, sondern allmählich sogar Kopfarbeitern wie Rechtsanwälten an den weißen Kragen gehen [10] – Stichwort Legal Tech –, halten sich die Waage mit denen, die rosige Zeiten kreativer Selbstverwirklichung erwarten, weil sich alle lästigen Routinen delegieren lassen.

Coca-Cola-Formel

In Wahrheit wissen wir nicht, welchen Lauf die Dinge nehmen werden. Der Blick auf vergangene Innovationswellen, bis zurück zum mechanischen Webstuhl am Beginn der Industrialisierung, hilft hier wenig, denn die Entwicklung verläuft längst nicht mehr linear.

Der Rechtsausschuss des EU-Parlaments hat sich bereits mit der künftigen Tragfähigkeit des Sozialversicherungssystems befasst und im Mai 2016 Empfehlungen an die EU-Kommission zu zivilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik (2015/2103(INL)) vorgelegt.

Wie Gesellschaften für den Fall funktionieren, dass auskömmlich bezahlte Arbeit mehr und mehr zur Mangelware wird, ist leider nur eine von vielen Fragen, auf die nachfolgende Generationen Antworten finden müssen – darunter die zahlreichen Hinterlassenschaften der Old Economy: Umweltzerstörung, Ressourcenknappheit, Klimawandel …

Wie sich all diese Probleme friedlich lösen lassen, erscheint als sehr viel größeres Geheimnis als die Coca-Cola-Formel. Die neuen Technologien, für manche Teil des Problems, könnten durchaus Teil der Lösung werden.

Quellen:

[1] Warhol, A. (1975): The Philosophy of Andy Warhol: (From A to B and Back Again). New York.

[2] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Adam_Curtis

[3] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_große_Macher

[4] vgl. Die Speedfactory ist für Adidas eine Revolution. In: Die Welt. Stand: 07.10.2016. URL: http://www.welt.de/wirtschaft/article155658067/Die-Speedfactory-ist-fuer-Adidas-eine-Revolution.html

[5] vgl. UPS plant 3D-Druck-Service auf Europa und Asien auszuweiten. In: 3Druck.com. Stand: 01.10.2016. URL: https://3druck.com/lieferanten-haendler/ups-plant-3d-druck-service-auf-europa-und-asien-auszuweiten-5849025/

[6] vgl. Bald kann man seine Waschmaschine auf Zeit mieten. In: Die Welt. Stand: 01.10.2016. URL: https://www.welt.de/wirtschaft/article128449956/Bald-kann-man-seine-Waschmaschine-auf-Zeit-mieten.html

[7] vgl. Otto: Fernseher und Tablets mieten statt kaufen. In: Golem.de. Stand: 01.10.2016. URL: http://www.golem.de/news/otto-fernseher-und-tablets-mieten-statt-kaufen- 1609-123345.html

[8] vgl. Abercrombie & Fitch: Jetzt auch offiziell uncool. In: Süddeutsche.de. Stand: 07.10.2016. URL: http://www.sueddeutsche.de/stil/new-york-jetzt-auch-offiziell-uncool-1.2108968

[9] vgl. Streit um Palmöl: Nestlé lenkt nach Greenpeace-Kritik ein. In: Zeit Online. Stand: 01.10.2016. URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-03/nestle-regenwald

[10] vgl. Automatisch recht bekommen. In: Zeit Online. Stand: 06.10.2016. URL: http://www.zeit.de/2016/40/legal-tech-algorithmen-juristen-ersatz