In den letzten Jahren deuteten Umfragen verschiedentlich darauf hin, dass es zu den größten Ängsten nicht mehr bloß von jungen Leuten gehört, vom eigenen Mobiltelefon getrennt zu werden. Es sei dahingestellt, ob der Verlust der Möglichkeit, auf jede alberne Kurznachricht aus der Peergroup zu reagieren, wirklich ein Drama wäre. Zum echten Problem kann es hingegen für Menschen mit Einschränkungen werden, wenn sie ihr Smartphone als „elementares Werkzeug für einen selbstständigen Alltag“, wie Anna Oestreich es ausdrückt, nicht dabeihaben. Die Absolventin der Münster School of Design (MSD) hat im Rahmen ihre Bachelorarbeit nach einer Lösung gesucht, die sicherstellt, dass dieses und andere wichtige Dinge beim Verlassen des Hauses nicht vergessen werden können. Ihre Antwort auf die Herausforderung ist die ‚schlaue‘ Tasche namens „loom“, die auf RFID-Transponder aufsetzt.
Loom bringt Menschen mit Einschränkungen mehr Selbstständigkeit
Loom ist das Ergebnis eines ergebnisoffenen Gestaltungsprozesses. Die gewählte Methode des partizipativen Gestaltens hatte Oestreich bereits in einem Projektseminar bei Prof. Carolin Schreiber kennengelernt. Zusammen mit fünf Beschäftigten der Franz Sales Werkstätten in Essen im Alter zwischen rund 20 und 50 Jahren erkundete Oestreich in Workshops die Bedürfnisse und Wünsche ihrer „Co-Designenden“, um die Aufgabenstellung besser zu verstehen und Hinweise hinsichtlich der Lösungsfindung zu erhalten. Dabei wurde deutlich, welch langer Übungsprozess gemeinsam mit Betreuenden erforderlich ist, bis Menschen mit Einschränkungen sich beim Bestücken ihrer Tasche an sämtliche nötigen persönlichen Gegenstände erinnern. Für Anna Oestreich ergaben sich daraus die Kernfragen: Wie müsste eine Tasche aussehen, die sich zur Unterstützung dieses Trainings optimal eignet? Und zweitens: Wie lässt sich signalisieren, dass alles da ist oder etwas fehlt?
Wichtig war den Beteiligten, dass die fertige Tasche kein Rucksack sein würde. Sinnvoller erschien ein breiter, über der Schulter, eng am Körper zu tragender Gurt, der sich gut überblicken lässt. Bei Anna Oestreichs Tasche loom bleiben in jeder Situation beide Hände frei. Problemlos kommt man so an die zahlreichen Innentaschen. „Das Schnittmuster habe ich bewusst simpel gestaltet, sodass die Tasche theoretisch in den Franz Sales Werkstätten gefertigt werden kann,“ erklärt Oestreich. Den Prototyp nähte sie selbst.
Doppelter Nutzen: RFID-Sticker ist zugleich eine Art Positionslicht im Dunkeln
Das Herzstück von Anna Oestreichs Tasche ist ein Lichtmodul, in dem die gesamte benötigte Technik steckt. Wurde etwas vergessen, signalisiert das ein rotes Licht außen unübersehbar. Grün leuchtet es für den Fall, dass die Tasche vollständig gepackt wurde. Möglich machen das RFID-Sticker, die sich an Smartphone, Geldbörse, Schlüsselbund und so weiter befestigen lassen. Als Zusatznutzen erhöht das Lichtmodul die Sicherheit, indem es dafür sorgt, dass man in der Dämmerung und bei Dunkelheit von anderen gesehen wird. Ein Beweis für die Fähigkeit der Nachwuchsdesignerin, in großen Zusammenhängen zu denken.
Wie Anna Oestreich berichtet, waren die Mitwirkenden bei der Vorstellung von loom überrascht und mussten zugeben, das Projekt zu Beginn unterschätzt zu haben. Noch ist die ‚schlaue‘ Tasche lediglich ein Unikat, doch Oestreich wünscht sich, einen Partner für die Serienanfertigung zu finden. „Ich brenne einfach für die Idee, Menschen durch Design zu befähigen, damit sie unmittelbar Erfolgserlebnisse erfahren und über sich selbst hinauswachsen können“, erläutert Oestreich. „Mit Dingen wie ‚loom‘ schaffen sie etwas auf einmal ganz allein, werden eigenständiger, fühlen sich sicherer und lernen, dass sie sich auf sich selbst verlassen können.“ Nebenbei sei angemerkt, dass ein ‚Aufpasser‘ wie loom gelegentlich jeden von uns vor Schwierigkeiten bewahren könnte.
Fazit
Anna Oestreich ist es mit loom in vorbildhafter Weise gelungen, moderne Technologie und die Möglichkeiten guter Gestaltung einzusetzen, um das Leben von Menschen gezielt zu verbessern. Das zu sagen mag an diesem Punkt ihrer Laufbahn vielleicht ein wenig früh sein, aber Oestreichs Engagement rechtfertigt, sie eine Zierde des Designberufs zu nennen. Man kann ihr nur Respekt zollen und viel Erfolg für ihren weiteren Weg wünschen. Dessen nächste Station steht übrigens schon fest: Berufsbegleitend zu ihrem Masterstudium wird Anna Oestreich im Forschungsprojekt „Arbeiten wie ich es will – Empowerment für Menschen mit Schwerbehinderung“ wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team von Prof. Carolin Schreiber.
Update vom 23. November 2023:
Anna Oestreich darf sich über eine Nominierung für den „Be aware“-Award des Vereins design inclusion e. V. freuen, die sie für die Tasche loom erhielt.
Weitere Informationen:
FH Münster
www.fh-muenster.de
Franz Sales Werkstätten
www.franz-sales-haus.de/arbeit/werkstaetten
Bildhinweis:
Für das Titelbild gilt: © Anna Oestreich