99 Luftballons. In den 1980er-Jaren, zur Zeit des Wettrüstens zwischen USA und UDSSR schalteten die Medien auf Eskapismus. Stichwort Neue Deutsche Welle. Und heute?

Was waren die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts für eine verrückte Zeit! NATO und Warschauer Pakt zielten mit Myriaden von Nuklearsprengköpfen aufeinander, von denen die mächtigsten Exemplare einzeln eine größere Zerstörungskraft besaßen als sämtliche im Zweiten Weltkrieg detonierten Bomben. Inklusive der beiden US-Atombomben, die Hiroshima am 6. August 1945 und Nagasaki drei Tage später auslöschten. Doch das Radio spielte von früh bis spät Musik der Neuen Deutschen Welle – Eskapismus vom Feinsten. So zum Beispiel vor genau 40 Jahren den Sommerhit „Sommersprossen“ von der Band mit dem merkwürdigen Namen „UKW“ (was quasi so viel bedeutet wie Spotify minus Internet). Ohne sonderlich zu irritieren, gingen Strophen wie „Tina, ist das nicht prima? Was für ein Klima / Haben wir hier schlechtes Klima / Fahren wir sofort nach Lima“ über den Äther. Warum auch nicht? Klima sollte erst zum Reizwort werden. Die Achtzigerjahre waren schon ein reichlich ausgeflipptes Tänzchen auf der Rasierklinge.

Eskapismus und heiße Luft, verpackt in 99 Luftballons

Und heute? Der Klimawandel ist nicht länger Hirngespinst, sondern zur realen Bedrohung für den Weltfrieden geworden, während die Zahl der Nuklearmächte zugenommen hat – und voraussichtlich weiter wächst. Russlands Überfall auf die Ukraine hat schließlich erneut bewiesen, dass das eigene Existenzrecht mit dem moralischen Zeigefinger allein nicht gesichert werden kann. Vor diesem Hintergrund wirkt es putzig, dass die deutsche Außenministerin China aktuell davor warnt, sich Taiwan gewaltsam einzuverleiben. Bei aller Berechtigung muss selbst ihr klar gewesen sein, dass die Bundeswehr – Stand 2022 – im Ernstfall wenig mehr als 99 Luftballons aufzubieten hätte, um einen weiteren Hit der Neuen Deutschen Welle zu zitieren. Mit anderen Worten: alles heiße Luft und illusionärer Eskapismus für Fortgeschrittene. Oder übersetzt in die Sprache der Gestaltung, mit der wir uns ja schwerpunktmäßig befassen, eine Form ohne echte Funktion.

Raus aus dem Labyrinth und vom Design lernen

Was aber könnte die Politik vom Design lernen, um als gestaltende Kraft vor die Entwicklung zu kommen und dem Weltgeschehen nicht fortgesetzt hinterherzuhinken? Nun, sie könnte beginnen, Dinge im Kontext zu begreifen und belastbare Gesamtkonzepte entwickeln. Um gleichzeitig damit aufzuhören, erratisch an einzelnen Schrauben zu drehen, hoffend, dass bis zur nächsten Wahl nicht auffällt, dass man lediglich den Niedergang verwaltet. Jüngstes Beispiel: die gescheiterte Energiepolitik. Die Rechnung – zuzüglich Mehrwertsteuer – zahlen demnächst Millionen Haushalte. Was geschieht, wenn dem Konsum schlagartig zig Milliarden Euro entzogen werden, weil man das Geld im wahrsten Sinne verheizt? Statt aus dem Geschichtsbuch will der Finanzminister das offenbar experimentell erfahren. So hartnäckig erteilt er Forderungen nach Entlastungen eine Absage.

Vorerst bleibt die Politik in ihrem Labyrinth aus Unehrlichkeit und fehlender Weitsicht gefangen. Leider ist nicht einmal mehr die Musik richtig „prima“, sodass es für das Volk diesmal sogar mit dem Eskapismus schwerer wird.

Herzlichst
Michael Graef

Chefredakteur und Mitbegründer von COLD PERFECTION

 

 
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