Waschmaschinen beim Psychiater sei in Anspielung auf Stanisław Lem ein gedankliches Bild für eine mögliche Welt von morgen, in der die Rolle des Menschen neu definiert werden muss. Ein Editorial von Michael Graef. Passend dazu zeichnete unser Titelbild diesmal eine künstliche Intelligenz.

Waschmaschinen beim Psychiater sei in Anspielung auf Stanisław Lem ein gedankliches Bild für eine mögliche Welt von morgen, die weitgehend von künstlicher Intelligenz geprägt ist und in der die Rolle des Menschen neu definiert werden muss. Ein Editorial von Michael Graef.

„Bitte zeichne mir ein Schaf!“, forderte ich die Waschmaschine auf. „Und dieses Mal hätte ich gern eines, das sich nicht in einer Kiste verbirgt. Ich möchte, dass man es wirklich sieht“, präzisierte ich. „Ach ja, wo du schon dabei bist, schreibe mir gleich ein passendes Buch. Ich benötige es als Geschenk für einen Freund“. Ohne zu zögern setzte sich der Automat in Bewegung. Die Trommel im Inneren drehte sich erst langsam und sachte, danach zunehmend ungestüm. Es rumpelte und ratterte und Augenblicke später hielt ich ein fertiges Buch in Händen. Es war noch ganz warm, jedoch bereits trocken. Zu meiner Zufriedenheit fand ich beim Aufschlagen wortgewandt formulierte, spannend erzählte und ansprechend illustrierte Geschichten.

Jetzt schnell als Geschenk verpacken lassen, dachte ich. Zweifellos würde das mein seelenloser Diener nach dem nächsten Kommando anstandslos erledigen.

Eines indes irritierte mich. Anders als erwartet, trug das Buch nicht den Titel „Der kleine Prinz“. Dafür las ich auf dem Umschlag Folgendes: „Märchen für satte, denkfaule, dekadente und digital vereinsamte Wohlstandsmenschen“. Mir waren das viel zu viele Adjektive. Ferner beschlich mich das ungute Gefühl, es verberge sich dahinter irgendeine Anspielung. Bloß kam ich nicht darauf, was gemeint sein könnte …

Neo-antike Hochkultur oder dystopischer Alptraum?

Szenenwechsel: Beenden wir den Ausflug in die Welt der fiktionalen Literatur in Form meiner kurzen Hommage an Antoine de Saint-Exupéry und Stanisław Lem (auf den wir noch zurückkommen werden) und widmen uns stattdessen der Gegenwart. Von einer Art Schlaraffenland scheinen angesichts der Ausbreitung der künstlichen Intelligenz Menschen wie Jen-Hsun Huang, CEO des Chipentwicklers Nvidia, gegenwärtig zu träumen. Aber steht uns tatsächlich eine allgemeine kulturelle Blüte bevor, die verschiedentlich mit dem antiken Griechenland (abzüglich Sklaverei) verglichen wurde? Wohlstand und Muße für alle, von früh bis spät – und für Reich und Arm?

Es ist alles andere als ausgemacht, dass wir uns auf ein Paradies der Nichtwerktätigen zubewegen – und nicht auf einen dystopischen Alptraum wie ihn Kurt Vonnegut 1952 in seinem ersten Roman „Player Piano“ beschrieben hat. Eine verschwindend kleine Minderheit besitzt darin das Privileg, den gesamten Maschinenpark überwachen zu dürfen und somit noch eine Aufgabe zu haben. Im Gegensatz zu dem streng davon getrennt lebenden Millionenheer der inzwischen vollständig Nutzlosen, die man sich selbst überlässt. Bis sie schließlich rebellieren.

Bürgerrechte für Waschmaschinen

In Stanisław Lems Erzählung „Sterntagebücher“ von 1957 sind die Vorzeichen genau umgekehrt. Hier rotten sich technologisch völlig überzüchtete Waschmaschinen zu gefährlichen Banden zusammen, welche die Straßen unsicher machen. Verantwortlich dafür ist der Überbietungswettbewerb zweier Waschmaschinen-Hersteller. Im Sinne der sogenannten Schöpferischen Zerstörung befähigen sie ihre Produkte jenseits der ursprünglichen Reinigungsaufgabe zu allem, was man sich vorstellen kann – und mehr. Die ihnen gegebene fortgeschrittene künstliche Intelligenz wirft sogar die Frage auf, ob die Maschinen Bürgerrechte erhalten sollen.

Mit seiner vordergründig amüsanten Geschichte nahm Lem zahlreiche hypothetische Fragen vorweg, denen sich die Menschheit alsbald wird stellen müssen. Zwar glauben noch nicht alle Fachleute an das Eintreten der technologischen Singularität als den Zeitpunkt, ab dem die künstliche Intelligenz der menschlichen überlegen ist. Doch allerspätestens dann, wenn man vermehrt Waschmaschinen beim Psychiater antrifft – um bei dem Bild zu bleiben –, wird es Zeit für die Beantwortung einer jahrtausendealten Frage, auf die es bislang keine zufriedenstellende Antwort gibt: Was ist der Mensch?

Herzlichst
Michael Graef

Chefredakteur und Mitbegründer von COLD PERFECTION

PS: Begeistern auch Sie sich für das Thema künstliche Intelligenz? Dann ist unsere Rezension zu „Design und künstliche Intelligenz“ von Marc Engenhart und Sebastian Löwe, erschienen bei Birkhäuser, vielleicht genau das Richtige für Sie.

PPS: Als grundsätzlichen Einstieg in das Thema empfehlen wir darüber hinaus den von Bernd Otte verfassten Band „Künstliche Intelligenz“ aus der bekannten Reihe „Für Dummies“ von Wiley-VCH.

Bildhinweis:
Unser Titelbild zeichnete diesmal eine künstliche Intelligenz. Mit nur wenigen Schlagworten als Prompt schuf sie ein – wie wir finden – ziemlich eindrückliches Bild von einer verstörten Maschine, die dringend eine Auszeit oder professionelle Hilfe benötigt.

 
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