Seit nunmehr 110 Jahren besitzt sie ihren festen Platz im Fahrtwind, ganz vorn auf den Hauben der edelsten Automobile der Welt. Ein Rolls-Royce ohne die vom Bildhauer Charles Robert Sykes geschaffene Spirit of Ecstasy als das Sinnbild höchster Fahrfreude und nicht zu steigernder Exzellenz? Absolut undenkbar. Dabei konnte sich der Konstrukteur Frederick Henry Royce für Kühlerfiguren überhaupt nicht erwärmen. Seine privaten Fahrzeuge trugen deshalb auch nach 1911 zumeist lediglich das weltbekannte Rolls-Royce-Signet am Kühler.
Der Zeitgeist verlangte danach
Eine andere Auffassung vertrat der Partner von Royce, der ehemalige Autohändler und Importeur Charles Stewart Rolls. Mit dem Blick des Kaufmanns erkannte er, dass der Zeitgeist nach Ornamenten verlangte. Anstatt jedoch zuzuschauen, wie die Kundschaft sich durch Dritte irgendwelche Merkwürdigkeiten auf ihren Luxusautos anbringen lässt, wollte Rolls mithilfe einer eigenen Kreation in der Art der traditionellen Darstellung der griechischen Siegesgöttin Nike die ästhetische Kontrolle übernehmen. Eine im Sinne des Brand Designs lehrbuchmäßige Entscheidung.
Obschon als Sonderausstattung gelistet, setzte sich die offizielle Rolls-Royce-Kühlerfigur alsbald durch. Gewiss hing das mit der grandiosen Umsetzung zusammen. Mit der Beauftragung von Sykes bewies man ein wahrhaft glückliches Händchen, allerdings wählte der Bildhauer als gestalterische Grundlage ausgerechnet „The Whisper“. Ein Entwurf, mit dem sich John Douglas-Scott-Montagu, 2. Baron Montagu of Beaulieu und Herausgeber des Magazins „The Car Illustrated“, von Sykes zwei Jahre zuvor seinen Rolls-Royce hatte individuell „aufhübschen“ lassen. Dass die spätere Spirit of Ecstasy dem Vorbild ähnelt, liegt außerdem daran, dass in beiden Fällen dieselbe junge Dame Modell saß – die Sekretärin Eleanor Velasco Thornton. Sie war gleichzeitig die heimliche Geliebte von Montagu, was den Finger auf den Lippen und den Namen der älteren Kühlerfigur erklärt.
Britisches Understatement fährt mit
Diskretion spielte bei der Auftragsarbeit für Rolls-Royce ebenso eine wichtige Rolle, denn sie entstand ohne Wissen von Henry Royce. Vornehme Zurückhaltung wiederum gab den Ausschlag dafür, dass der ursprüngliche Namensvorschlag für Sykes allegorisches Werk verworfen wurde. Spirit of Speed passte nicht zu dem vom Geist britischen Understatements bestimmten Selbstbild der Marke. Bis heute verbittet sich die Frage nach der Höchstgeschwindigkeit und den Fahrwerten eines Rolls-Royce; die Automobile aus Goodwood sind im Zweifelsfall schnell genug. Geändert hat sich hingegen, dass die „Flying Lady“, wie man das Abbild von Eleanor Thornton im wehenden Kleid ebenfalls nennt, bei neuen Modellen zum Schutz vor Vandalismus nach dem Erreichen der Parkposition versenkt wird.
Weniger bekannt ist, dass sich die Spirit of Ecstasy in der Vergangenheit bereits eine Zeitlang ducken musste. Um auf den flacheren Karosserien der 1930er-Jahre die Sicht nicht zu beeinträchtigen, beauftragte man Sykes, eine kniende Version zu gestalten. Sie wurde 1934 erstmals verwendet. Einige Jahre später kam man dann auf die glorreiche Idee, einfach eine etwas kleinere Ausgabe der originalen Spirit of Ecstasy zu montieren. Apropos Original: Bis 1950 waren die Figuren aufgrund der Herstellung im Wachsausschmelzverfahren technisch gesehen allesamt Unikate. Zudem signierte Sykes in den Anfangsjahren jede Spirit of Ecstasy persönlich, was sie zu Sammlerstücken macht. Umso besser, wenn jeweils noch der zugehörige Rolls-Royce an ihnen befestigt ist.
Weitere Informationen:
Rolls-Royce Motor Cars Ltd.
www.rolls-roycemotorcars.com
Bildhinweis:
© Rolls-Royce