Die herkömmliche Schularchitektur stammt aus einer gänzlich anderen Epoche und Ideenwelt. Mit den heutigen Anforderungen ist sie nicht mehr kompatibel. Erdacht wurde sie einst für den Frontalunterricht. Für stumpfes Auswendiglernen von Vorgesagtem und das Erzeugen von Konformismus und Obrigkeitsdenken. Im Prinzip bestand die schulische Ausbildung für die Mehrzahl der Kinder über lange Zeit darin, dass man ihnen lediglich das vermittelte, was sie für vorgegebene Rollen benötigten. Als dienstbare Arbeitskräfte oder Verwaltungspersonal. Hehre humanistische Bildungsideale und -ziele waren hingegen faktisch einer privilegierten Minderheit vorbehalten.

Auch heutzutage wird jungen Menschen eine gewaltige Menge an Wissen vorenthalten. Größtenteils entlässt man sie beispielsweise ohne jedes Verständnis für ökonomische Zusammenhänge quasi in die finanzielle Unmündigkeit. Gleichzeitig herrscht Konsens darüber, dass wir längst in einer Wissensgesellschaft leben. Heißt konkret: Wert wird zunehmend daraus geschöpft, dass man sich Aufgaben selbst sucht und bisweilen seinen Beruf sogar selbst erfindet. Eingedenk dessen erweist es sich als veritables Wohlstandsrisiko für unser Land, dass die meisten Schulen pädagogischen Museen stärker ähneln als Zukunftslaboren. Wie sich die Verhältnisse mittels intelligenter Schularchitektur verbessern lassen, zeigt eine Gemeinde mit rund Siebentausend Seelen im Südosten des Schwarzwalds.

Intelligente Schularchitektur macht den Raum zum Pädagogen

Es wirkt fast so, als habe man mit der Konzeption der Schularchitektur für den Neubau der gymnasialen Oberstufe der Alemannenschule im baden-württembergischen Wutöschingen die Absicht verfolgt, aus Protest alles anders zu machen. Eine Schule ohne Klassenzimmer? Lehrerzimmer fehlen ebenfalls. Auch sonst erinnert wenig an gewöhnliche Bildungsanstalten. Und das hat Methode. Das Ziel des beauftragten interdisziplinären Innenarchitekturbüros Raumreaktion aus Zürich war die Schaffung einer zukunftsweisenden Schularchitektur. Sie soll den Rahmen für eine neue Praxis selbstorganisierten Lernens und Lösens von Problemen in Gruppen- oder Einzelarbeit bilden. Man bezieht sich hiermit auf die Vorstellungen Loris Malaguzzis vom Raum als einem „dritten Pädagogen“. Auf den 2439 Quadratmetern, verteilt auf zwei Geschosse, setzt man also sozusagen auf die Lehre des Raums, statt dass man leere Räume mit altem Ballast füllt.

Herkömmliche Schularchitektur ist Teil eines enormen Problems. Das Konzept von Raumreaktion zeigt, wie man selbstorganisiertes Lernen ermöglicht, die Kooperation fördert und zugleich Rückzugsräume schafft, die der Konzentration und Entspannung dienen.

„Die Alemannenschule ist ein besonderes Projekt für uns, bei dem wir bewusst Konventionen des klassischen Schulbaus durch neue Ideen des Zusammenarbeitens und Lernens ersetzt haben. Dadurch wollen wir den Schülerinnen und Schülern eine bessere Lernatmosphäre und einen offenen Austausch im täglichen Miteinander ermöglichen“, erklärt die Psychologin Caroline Spirig von Raumreaktion die neue Schularchitektur. Klug hat das seit 2018 zusammenarbeitende Zürcher Team, zu dem außerdem die Innenarchitektin Anika Müller und der Industrial Designer Patrick Müller gehören, verstanden, wie stark der Raum Einfluss ausübt auf Verhalten und Wohlbefinden.

Mit dem Herzen dabei statt null Bock

Der Mittelpunkt des neuen Gebäudes ist ein großflächiger Co-Learning-Space. Er ist mit seinen vielfältigen Sitz- und Stehmöglichkeiten ebenso flexibel wie das Konzept der Schule insgesamt, welches Schulfächer nicht als diskret getrennte Bereiche erachtet, sondern als sich überschneidende und wechselseitig anregende Inhalte innerhalb einer offenen Lernstruktur. Passend dazu unterstützen die Räume der Alemannenschule Wutöschingen in einem Moment die Konzentration, im nächsten die Kooperation mit anderen. Sie sind Orte für effektives Lernen und Entspannung.

Die Qualität des gesamten Konzepts, die Ausstattung und die verwendeten Materialien sind nicht nur zielgerichtet. Hierin drückt sich eine Wertschätzung für die jungen Menschen aus, die gespürt wird und inspiriert.

So viele gute Einfälle in Sachen Schularchitektur bleiben nicht folgenlos. Allem Anschein nach ist es deskriptiv und keineswegs präskriptiv zu verstehen, dass eine prominent angebrachte Bronze-Plakette die Philosophie der Alemannenschule zitiert. Sie lautet: „Mit dem Herzen dabei“. Ob und wann das hier Geleistete Schule macht, ist offen. Im Zeitalter der Vernetzung (wenngleich hierzulande mit gewissen Abstrichen) sollte sich indes schnell herumsprechen, was in Wutöschingen entstanden ist. Allerdings mahlen die bürokratischen Mühlen in Ministerien und Behörden langsam. Ungefähr so langsam wie zur Zeit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Ein weiteres Hindernis für den künftigen Erfolg Deutschlands in einer sich mit rasender Geschwindigkeit neu ordnenden Welt, das dringend beseitigt werden muss.

Weitere Informationen:
Raumreaktion GmbH
www.raumreaktion.ch

Bildhinweis:
Für alle Fotos gilt: © Raumreaktion

 
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