Wertschätzung schreibt man mit der Hand, für Banalitäten gibt es E-Mail und Kurznachricht. Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung einer Kulturtechnik.

Ein Teil der eigenartigen Faszination, die von den Theorien Albert Einsteins ausgeht, gründet darauf, dass sie uns dabei helfen, das Universum besser zu verstehen, obwohl sie denkbar diskrepant sind zu unseren Alltagserfahrungen. Für die Aphorismen des Physik-Genies gilt das weniger. Die Feststellung, dass das, was nichts kostet, auch nichts wert ist, kommt beispielsweise einer Binsenwahrheit gleich. Dem zugrunde liegenden psychologischen Mechanismus verdanken wir zum Beispiel die Erfindung der Schutzgebühr. Mit ihrer Hilfe will man bekanntermaßen erreichen, dass einer Sache, die man eigentlich unentgeltlich abgeben möchte, durch die Forderung einer Gegenleistung echtes Interesse, ja Wertschätzung entgegengebracht wird.

Zeichen der Wertschätzung

Vergleichbare Prinzipien kennt man aus dem Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, denn diese hängen – einerlei, ob es sich um die private oder geschäftliche Sphäre handelt – entscheidend von Zeichen der Wertschätzung ab. Natürlich müssen das nicht zwangsläufig materielle Dinge sein. Zeitaufwand ist ein mindestens ebenso probates Mittel, um einer anderen Person Wertschätzung und Achtung entgegenzubringen. Immerhin ist Zeit das Wertvollste, das wir besitzen.

Nicht zuletzt im Geschäftsleben wird daher eine fast schon in Vergessenheit geratene Kulturtechnik zunehmend wiederentdeckt. Ihr Name lautet Chirografie. Bekannter ist sie als manuelles Schreiben. Handgeschriebene Briefe oder Grußkarten können wahre kommunikative Wunder bewirken. Wer eine derartige Zusendung erhält, spürt den Kontrast zur häufig floskelhaften Kommunikation des Internet-Zeitalters, die im Kern Ausdruck einer tayloristischen, auf Effizienzsteigerung abzielenden Selbstentfremdung des Menschen von sich selbst ist und sich deshalb nur bedingt eignet, um Beziehungen auf angemessene und nachhaltige Weise zu pflegen oder zu vertiefen. Mit anderen Worten: Wertschätzung schreibt man mit der Hand, für Banalitäten gibt es E-Mail und Kurznachrichtendienst.

Ein analoger Proof of Work

Wem diese zugegeben sehr pointierte Bemerkung abwegig erscheint, sei auf ein Phänomen hingewiesen, das aus dem Kontext der Digitalisierung selbst stammt und im Grunde dieselbe Idee des Nachweises von Wertschätzung beziehungsweise Legitimität verfolgt. Die Rede ist vom Proof of Work. Hierbei wird Computern jeweils eine schwierige Aufgabe gestellt, die zu lösen relativ viel Zeit in Anspruch nimmt, wodurch die missbräuchliche Nutzung eines Dienstes ausgeschlossen werden soll. Spezielle Varianten existieren zum Zwecke der Eindämmung von Spam-Mails, dem Inbegriff der kommunikativen Degradierung. Handgeschriebene Briefe sind in der heutigen Zeit, wenn man so will, eine Art analoger Proof of Work.

Vielleicht ist es für eine solche Prognose zu früh, doch manches deutet darauf hin, dass das Schreiben mit der Hand – idealerweise mit einem guten Füllfederhalter – eine ähnliche Renaissance erleben wird wie zuvor der Plattenspieler und die mechanische Uhr. Alles drei verbindet, dass die jeweiligen modernen Substitute die originalen Qualitäten – aller technischen Perfektion zum Trotz – nicht verlustfrei darstellen. Dazu mangelt es ihnen an etwas, das manche als Seele bezeichnen. Alternativ könnte man von einem inhärenten Bezug zum menschlichen Maß sprechen.

Blinder Fortschrittsfanatismus

Nachgerade skandalös ist nebenbei die sich abzeichnende Tendenz, an Schulen im In- und Ausland keine Schreibschrift mehr zu vermitteln. Kinder dieser Chance berauben zu wollen, beweist ihnen gegenüber nicht bloß fehlende Wertschätzung. Vielmehr hat das Ganze gravierende Folgen. Das Verwandeln einer elementaren Kulturtechnik in Herrscherwissen ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Längst sollte verstanden sein, dass etwa die kognitive und motorische Entwicklung Hand in Hand gehen und die Verarbeitungstiefe bei einem auf handschriftlichen Aufzeichnungen basierenden Lernen deutlich größer ist. Zudem wird gern übersehen, dass die Verwendung von Laptops und Tablet-Computern im Unterricht aus Kindern ohnehin nicht automatisch gefragte IT-Profis macht, sondern zunächst einmal von Konsumgütern Abhängige.

Möglicherweise dauert es einfach noch eine Weile, bis man ein weiteres Mal erkennt, dass neue Technologien nicht per se überlegen sind und alles Bewährte obsolet machen. Über die vielen unglaublichen Torheiten, die blinder Fortschrittsfanatismus in der Vergangenheit bereits nach sich zog, ließen sich jedenfalls dicke Bücher schreiben – notfalls sogar von Hand.

 
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