Was ist nur aus dem guten alten Adventskalender geworden? Wohl dasselbe wie aus Weihnachten. Die Zeiten ändern sich – und mit ihnen die Art, wie Traditionen gelebt werden. Das ist weder gut noch schlecht, sondern der normale Lauf der Dinge. Schön ist, dass jeder Mensch für sich selbst entscheiden kann, in welche Richtung es weitergehen soll. Im Advent und auch danach.
Gehören Sie zu denen, die bald wieder allmorgendlich ein Papptürchen öffnen? Oder finden Sie das albern, weil es eher eine Sache für die Jüngsten ist? Als Tradition ist der Adventskalender – gemessen an dem Ereignis, auf das er sich im eigentlichen Sinne bezieht – ebenfalls noch relativ jung. Mitte des 19. Jahrhunderts begann man damit, sich im Advent die Zeit zu verkürzen und zugleich die Vorfreude auf das christliche Weihnachtsfest zu schüren, indem mal nacheinander Bilder aufgehängt und mal vom Kalender Blätter für die verbleibenden Tage bis Heiligabend abgerissen wurden.
Als Ergänzung zu Abreißkalendern tauchten im vorigen Jahrhundert außerdem Alben auf, in die Kinder die traditionellen weihnachtlichen beziehungsweise heilsgeschichtlichen Motive einkleben konnten. Hierbei handelte es sich freilich fast schon um eine luxuriöse Angelegenheit. Bei der später aufgekommenen Variante mit Türchen erst recht. Es gab immerhin wesentlich spartanischere Varianten der adventlichen Einstimmung. Mit Kreide auf eine Wand gemalte Striche zum Beispiel, die man einen nach dem anderen abwischte. Oder Strohhalme, die täglich einzeln in die Weihnachtskrippe gelegt wurden.
Der Adventskalender als Sinnbild für seelische Leere?
Vermutlich ahnen Sie, was jetzt kommt … Genau, ein Zeitsprung in die Gegenwart. Heutzutage wären bunte Papierbildchen oder schnöde Kreidestriche als Countdown für das „Hochamt des Konsums“ kaum angemessen. Nach Ansicht der Wirtschaft hat ein ordentlicher Adventskalender stattdessen offenbar übergewichtig und riesengroß zu sein. Wie unsere heutigen Automobile. Idealerweise ist er kiloweise mit Süßigkeiten, einem kompletten Werkzeug-, Kosmetik- oder Spielzeugset gefüllt.
Wachsen aber Glück und Zufriedenheit überhaupt mit den Müllbergen mit oder nährt ein lückenlos konsumistisch durchdekliniertes Brauchtum nicht vielmehr ein Gefühl der spirituellen Unerfülltheit, das sich selbst durch noch so viel zusätzlichen Konsum nicht kompensieren lässt? Ist der moderne Adventskalender, diese riesige leere Schachtel, in die allerlei fragwürdiges Zeug gegeben wird, womöglich gar ein Sinnbild für die seelische Leere, die mit dem Verlust der ursprünglichen Bedeutung der Weihnachtszeit einhergeht? Beantworten ließe sich die Frage vielleicht mit folgendem an Werbesprech angelehnten Slogan: „Advent und Weihnachten sind das, was du daraus machst“.
Die wahre Bedeutung von Advent und Weihnachten
Längst ist es keine verschwindend kleine Minderheit mehr, die sich von vermeintlichen Zwängen befreit und Kauf- und Geschenk-Orgien im Advent und an Weihnachten den Rücken kehrt. Alles ist schließlich irgendwie zu viel geworden. Ungeachtet dessen muss sich sicherlich niemand gezwungen fühlen, auf sämtliche sinnlich-dinglichen Freuden im Advent und an den Feiertagen zu verzichten, um so ein besserer Mensch zu werden oder die Bewohnbarkeit des Planeten zu bewahren, wenngleich beides absolut erstrebenswerte Ziele sind. Jedenfalls herrscht an nachhaltigen und gleichzeitig reizvollen Alternativen zu gewöhnlichen Konsumartikeln heute gottlob kein Mangel. Das gilt für Adventskalender übrigens ganz genauso.
Mir fiel eine Variation des Themas besonders ins Auge. Die „Adventsleiste“ von Design im Dorf steht für pure Besinnlichkeit, Türchen oder Beutelchen mit Leckereien oder Spielereien fehlen hingegen vollständig. Weniger ist eben sogar im Advent mehr. Ein solches Stück aus herrlichem Holz behält man für alle Zeit. Genau wie die Erinnerungen an Momente voller Zuneigung, Wertschätzung, Zusammenhalt und Liebe. Darum, das darf niemals vergessen werden, geht es doch im Advent und beim Fest der Feste in Wahrheit. Und davon wünsche ich Ihnen – allen aktuellen Widrigkeiten zum Trotz – jede Menge.
Herzlichst
Michael Graef
Chefredakteur und Mitbegründer von COLD PERFECTION