Laut Salvador Dali liegt im Zeichnen die Ehrlichkeit der Kunst. Paul Klee beschrieb es als im Wesentlichen identisch mit dem Schreiben. Karl Lagerfeld wiederum setzte Zeichnen sogar mit dem Atmen gleich. Das unterstreicht zum einen die völlige Natürlichkeit der Tätigkeit und zum anderen impliziert es Lebensnotwendigkeit. Wer würde also, ja wer könnte mithin gänzlich darauf verzichten zu zeichnen?
Make drawing great again!
Aber machen wir uns nichts vor. Als Kulturtechnik ist das Zeichnen vom langfristigen Aussterben nicht minder bedroht als die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens. Es werde in Zukunft Sache weniger Fachleute sein, diese zu erlernen und zu praktizieren, prognostizierte der Medienphilosoph Vilém Flusser bereits vor drei Jahrzehnten – lange vor ChatGPT und TikTok.
Hoffnungsfroh stimmt indes, dass es überhaupt nicht viel braucht, um insbesondere bei jungen Leuten die Faszination am Zeichnen zu wecken und dauerhaft zu bewahren. Nicht einmal teure Ausrüstung ist hierfür erforderlich. Es kommt allein auf gute Vorbilder an. Menschen wie Kenya Hara zum Beispiel.
Vielleicht nicht der größte Zeichner, aber ein großartiges Buch
Mit seinem „DRAW“ betitelten neuen Buch reiht sich der japanische Designer, der als bedeutendster gegenwärtiger Vertreter seines Landes gilt und für viele führende Marken gearbeitet hat, zwar nicht in die Liste der größten Zeichner der Menschheitsgeschichte ein – was Kenya Hara gleich zu Beginn einräumt. Dafür jedoch findet man bei ihm etwas, das für alle, die wie wir die Ergebnisse von Designprozessen bis ins kleinste Detail studieren, sehr wertvoll ist.

Tendenziell hat man sich normalerweise mit Ex-post-Analysen zu begnügen und kann sich höchstens auf wenige Statements, Bilder von Prototypen oder einzelne Skizzen stützen. DRAW hingegen liefert Zeichnungen und Kritzeleien in Hülle und Fülle.
Wichtig für ein übergeordnetes Designverständnis
Als visualisierte, fixierte Gedanken geben die Zeichnungen von Kenya Hara Aufschluss über kreative Prozesse und allmähliche Formfindungen. Mithilfe von DRAW nähert man sich dementsprechend über das Zeichnerische aus der entgegengesetzten Richtung einem tieferen, übergeordneten Verständnis des fertigen Designs.

Erschienen ist DRAW bei Lars Müller Publishers. Neben kurzen einordnenden Texten des Designers – gestaffelt nach Zeitläufen – und einigen wichtigen, kraftvollen Schlussbemerkungen von Verlagsgründer und Grafiker Lars Müller beinhaltet es nicht weniger als rund 720 Zeichnungen von Kenya Hara. Ein reicher Schatz, mit dem man sich gewiss auf lohnende Weise wird akademisch-wissenschaftlich beschäftigen können.
Oder man genießt respektive nutzt die Resultate einer vier Jahrzehnte überspannenden zeichnerischen Reise als Inspirationsquelle. So oder so ist DRAW eindeutig zu empfehlen. Das Buch setzt ein klares Zeichen für das Zeichnen. Damit spricht es uns aus der Seele und kommt außerdem genau zur richtigen Zeit.

Kenya Hara
DRAW
Gebundene Ausgabe, 16 x 25 cm
352 Seiten, ca. 720 Abbildungen, englischsprachig
ISBN 978-3-03778-761-8
Weitere Informationen:
Lars Müller Publishers GmbH
www.lars-mueller-publishers.com