Die Fortschritte bei der Erforschung künstlicher Intelligenz machen einen gesellschaftlichen Diskurs über die Frage ihres sinnvollen Einsatzes notwendig. Symbolbild.

Aktuelle Fortschritte bei der Erforschung künstlicher Intelligenz machen einen gesellschaftlichen Diskurs über die Frage ihres sinnvollen Einsatzes notwendig.

Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Die Rede ist von den linsenförmigen Spielsteinen des uralten Brettspiels Go, die sich im Gegensatz zu Schachfiguren auch funktionell nicht unterscheiden. Trotz der Einfachheit der Grundstruktur galt es bis vor Kurzem als äußerst unwahrscheinlich, dass ein Computer in absehbarer Zukunft den besten Go-Spieler der Welt würde bezwingen können. Mit deutlich mehr möglichen Stellungen, als es Atome im Universum gibt, ist Go schließlich um Dutzende Zehnerpotenzen komplexer als Schach. Weshalb das Durchrechnen aller ausführbaren Züge bis zum Spielende keine Option ist.

Der Südkoreaner Lee Sedol ging deshalb davon aus, im März 2016 gegen seinen digitalen Herausforderer glatt zu gewinnen. Statt 5:0 für ihn endete das Aufeinandertreffen allerdings 4:1 für „AlphaGo“.

Triumph der Forschung

Die von Google entwickelte Software, welcher der historische Etappensieg im Wettstreit Mensch gegen Maschine gelang, arbeitet anders als klassische Schachprogramme. Ihre selbstlernenden Algorithmen beschränken sich auf die Berechnung von Zügen, für die sich ein Gegner mit größter Wahrscheinlichkeit entscheidet. Quasi das Ei des Kolumbus – eine (zumindest vom Grundgedanken her) bestechend einfache Lösung für ein scheinbar unlösbar kompliziertes Problem.

Gleichzeitig ein Triumph der Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, der erahnen lässt, was als Ausfluss von Big Data, dem Handling riesiger Datenmengen, noch auf uns zukommt.

Keine ungelegten Eier!

Schicken sich Eier an, demnächst klüger zu sein als die Henne? Ist die Menschheit gar dabei, ein nicht zu beherrschendes Monstrum zu erschaffen? Es sind jedenfalls nicht ungelegte Eier und auch keine Ostereier (bzw. „Easter eggs“, wie bekanntlich harmlose Scherze gelangweilter Programmierer in Form versteckter Zusatzprogramme heißen), mit denen wir es hier zu tun haben.

Bereits in der Praxis angekommen ist die Identitätsfeststellung von Personen in Überwachungsvideos anhand biometrischer Merkmale, kombiniert mit dem automatischen Erkennen von auffälligen Verhaltensmustern. Das Ganze in Echtzeit! Man fühlt sich mehr als nur ein wenig an Philip K. Dicks Kurzgeschichte „Minority Report“ von 1956 erinnert, einem breiteren Publikum durch die knapp 50 Jahre spätere Verfilmung mit Tom Cruise bekannt.

Künstliche Intelligenz und Gesellschaft – ein „dickes Ei“!

Was macht künstliche Intelligenz langfristig mit Gesellschaften, wenn sie jeden auf Schritt und Tritt überwacht, quantifiziert und analysiert, ja sogar künftiges Verhalten treffsicher antizipiert? Ist es um den freien Willen (über dessen reale oder vermeintliche Existenz sich Philosophie und Hirnforschung uneins sind) gänzlich geschehen, wenn man sich durch jedes marginal von der Norm des Durchschnittlichen abweichende Detail exponiert und – eingedenk der großen Zahl nicht freiheitlich und demokratisch verfasster Staaten in der Welt – in Gefahr begibt, sanktioniert zu werden?

Ein breiter gesellschaftlicher Diskurs wird nötig sein, um die Grenze neu zu definieren, ab der Technik nicht mehr dem Menschen dient, sondern zum Bestandteil einer einschüchternden Infrastruktur wird, die im ungünstigsten Fall bestimmten Personen hilft, alle übrigen ihrer Freiheit zu berauben. Kein leichtes Thema – sozusagen ein „dickes Ei“, wie es im Volksmund heißt.

Kreativität und Genie

Klingt das etwa hasenfüßig? Womit es sein Bewenden haben soll mit österlichen Anspielungen. Obwohl: Die Art in der das Christentum das ursprünglich heidnische Frühlingsfest für seine Zwecke umgewidmet hat, taugt gut als Beispiel für menschliche Kreativität. Ihr werden sich künstliche neuronale Netze noch lange geschlagen geben müssen.

So erscheint es aus heutiger Sicht als nahezu abwegig, mit einem elektronischen Äquivalent zu rechnen für das überragende dichterische Genie Edgar Allan Poes, der zudem fast beiläufig mit seiner ungeheuer visionären Kosmogonie „Eureka“ von 1848 den 31 Jahre hiernach geborenen Albert Einstein in Verlegenheit brachte.

Oder mit einem Surrogat für die von beispielhafter Komplexität geprägten Werke von Joseph Beuys. Seine Filz- und Fettarbeiten sowie Performances wie „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ sind gewissermaßen zum Inbegriff einer für Laien unverständlichen Kunst geworden. Weil hierzu Kenntnis notwendig ist, aber auch – wie der deutsche Konzeptkünstler Gerhard Merz es einmal treffend ausgedrückt hat – das Überwinden des „Materialschreckens“.

Künstliche Intelligenz: Schrecken oder Chance?

Mit Schrecken erfüllen sollte uns der beschleunigte technologische Wandel nicht. Noch hat der menschliche Geist das Prä. Eine gesunde Skepsis ist hingegen mehr als angeraten. Außerdem müssen die damit verbundenen Fragestellungen – das sei nochmals betont – viel stärker öffentlich thematisiert und diskutiert werden. Voraussetzung hierfür ist jedoch die Verbreiterung der Wissensbasis in der Bevölkerung.

Die Analogie aus der Kunst zeigt: Genauso wie Bilder nicht selbst sprechen, sondern nur erkannt werden können, wenn Kenntnis von Kunst vorhanden ist (um ein weiteres Mal Gerhard Merz zu bemühen), entsteht technisches Verständnis ebenso wenig dadurch, dass man Kindern ein Smartphone in die Hand gibt oder weiß, wo im Internet die besten Rabattcoupons zu finden sind.

Gesellschaftliches Lastenheft

Das gesellschaftliche Lastenheft in Sachen Bildung und technischer Wissensvermittlung ist daher prall gefüllt. Viel zu häufig hinken Akteure wie Schule oder Medien aber der Entwicklung hinterher, liefern nicht genügend Impulse und ignorieren riesige Chancen für die gemeinsame Gestaltung unserer Zukunft.

Übrigens: Mit künstlicher Intelligenz verhält es sich ganz ähnlich wie mit dem lange Zeit negativ konnotierten Baustoff Beton. Weswegen der alte Marketingspruch der Beton-Lobby auch hier passt: „Es kommt darauf an, was man daraus macht“.