Symbolbild zum RGBMAG-Artikel Zukunft der Arbeit: Ein digitales Déjà-vu von Michael Graef

Die US-Automobilindustrie ist inzwischen in der Lage, ein Fahrzeug mit allen Schikanen ohne einen einzigen Arbeiter herzustellen. Die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre aber werden insbesondere im Bereich Produktion die gesamte bisherige Industriegeschichte in den Schatten stellen …

Déjà-vu: Was wie einer der unzähligen zeitgenössischen Kommentare zu Digitalisierung und Industrie 4.0 wirkt, ist in Wahrheit ein paraphrasierter Auszug aus einer 55 Jahre alten Parteitagsrede von Harold Wilson. Der Vorsitzende der britischen Labour Party unternahm am 1. Oktober 1963 einen Versuch, seine Landsleute auf die Herausforderungen des beschleunigten technologischen Wandels vorzubereiten [1]. Wirklich geglückt ist ihm das ebenso wenig, wie es während seiner Amtszeit als Premierminister gelang, den schleichenden Bedeutungsverlust und die Deindustrialisierung der einstigen Wiege der industriellen Revolution aufzuhalten.

Nichtsdestoweniger ist die Wiederentdeckung von Harold Wilsons legendärer Rede, die in eine Zeit zurückführt, die man als die „Digitalisierung vor der Digitalisierung“ bezeichnen könnte, in mehrfacher Hinsicht lohnenswert.

Bereit, die Welt zu erobern

Der Vollständigkeit halber sei vorausgeschickt, dass Harold Wilson durchaus auf die ökonomische Unsinnigkeit der Verwirklichung der eingangs erwähnten menschenleeren Fabriken mithilfe von kommandozeilengesteuerten Großrechnern hingewiesen hat. Gleichwohl ahnte er, dass sich das früher oder später ändern würde.

Die weitere Entwicklung ist hinlänglich bekannt. Kaum mehr als ein Jahr nach Wilsons Redeauftritt im nordenglischen Scarborough läutete das Modell PDP-8 des US-Herstellers Digital Equipment das Zeitalter der Minicomputer ein, die nicht länger Hallen oder Schränke füllten. Geringe Größe, hohe Leistungsfähigkeit, rasant wachsende Speicherkapazitäten und bessere Verfügbarkeit aufgrund sinkender Investitionssummen: Computer waren bereit, die Rechenzentren zu verlassen und die Welt zu erobern. US-amerikanische Computer wohlgemerkt …

Ende der europäischen Ataraxie

Ein halbes Jahrhundert danach ist Europa im weltweiten Vergleich in vielen digitalen Zukunftsfeldern denkbar weit abgeschlagen; ein Blick auf die Liste der wertvollsten Unternehmen der Welt genügt. Noch deutlich kritischer zu beurteilen ist die vollkommene Abhängigkeit von Technologien, die außerhalb Europas kontrolliert werden – und zwar in jedem Lebens- und Wirtschaftsbereich.

Für diese Einschätzung wurde man bis vor Kurzem bestenfalls belächelt. Mit der politischen Zeitenwende in den USA setzt sich endlich die Erkenntnis durch, dass die bequeme jahrzehntelange europäische Ataraxie beendet werden muss. Unübersehbar fallen uns laufend schwere ökonomische wie sicherheitspolitische Versäumnisse auf die Füße. Letztere seien bei der Betrachtung ausgeklammert, es würde den Rahmen sprengen. Wobei sich in Zeiten hybrider Kriegsführung diese Trennlinie streng genommen nicht mehr scharf ziehen lässt; ebenfalls eine Folge der Digitalisierung.

Jämmerliche Statistenrollen

Eine andere Folge der Digitalisierung ist die Tatsache, dass es für die Stabilität von Volkswirtschaften künftig irrelevant sein wird, ob sie vom Service-Sektor – Stichwort City of London – oder von schwäbischen Ingenieuren abhängen. Vor der digitalen Disruption ist kein Ort, keine Branche und kein Geschäftsmodell sicher. Was die Richtigkeit einer der Hauptthesen Wilsons beweist – dass nämlich niemand auf der Welt seinem Land den Lebensunterhalt schuldet (genauso wie den Europäern insgesamt; das Argument ist vollständig übertragbar).

Lassen sich die Staaten Europas zudem auseinanderdividieren, müssen sie sich auf der Weltbühne von morgen mit jämmerlichen Statistenrollen zufriedengeben. Die Briten haben sich – Stand heute – mit ihrem Brexit-Votum dafür entschieden, diese Lernerfahrung zu machen. Übrigens fiel bekanntlich das erste Referendum zum Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU (damals noch EWG) von 1975 in Harold Wilsons zweite Amtszeit als Premierminister.

Ablösung vormals exklusiver menschlicher Fähigkeiten

Doch zurück ins Jahr 1963: Die computergestützte Automatisierungstechnologie, die sich gerade durchzusetzen begann, verstand Wilson nicht lediglich als ein weiteres Kapitel der Substitution menschlicher Muskelkraft. Vielmehr erkannte er darin die Anfänge der Ablösung vormals exklusiver kognitiver Fähigkeiten des Menschen:

„The essence of modern automation is that it replaces the hitherto unique human functions of memory and of judgment. And now the computers have reached the point where they command facilities of memory and of judgment far beyond the capacity of any human being or group of human beings who have ever lived.“ [2]

Ganz konkret befasste sich Wilson daher mit der Zukunft der Arbeit und den Auswirkungen des Einsatzes der neuen Technologien auf den Arbeitsmarkt. Und er hatte Zahlen: Zehn Millionen Jobs müssten innerhalb von rund einem Jahrzehnt neu geschaffen werden, um die Verluste durch die Automatisierung in seinem Land aufzufangen, so die damalige Schätzung. Und bezogen auf die USA zitierte Wilson Quellen, die von 40 Millionen Jobs ausgingen, weil die Veränderungen hier früher einsetzten und schneller abliefen.

Freisetzungs- versus Kompensationstheorie

Die Parallele zum gegenwärtigen Diskurs ist augenfällig. Fast kein Monat vergeht, ohne dass irgendwo eine neue Aufstellung zur Ersetzbarkeit einzelner Berufe oder Berufsgruppen erscheint. Man könnte das als Panikmache abtun, immerhin entstand im Zuge der ersten Welle der Computerisierung – im Einklang mit der Kompensationstheorie – eine Unmenge völlig neuer Berufe. Sie vermochten die gemäß der Freisetzungstheorie wegfallenden Arbeitsplätze auszugleichen. Wird das in Zukunft so weitergehen?

Die heutige Entwicklung kann eigentlich mit der vor einem halben Jahrhundert gar nicht mehr verglichen werden, denn sie verläuft mittlerweile exponentiell statt linear, wie man von John Chambers, zwischen 2006 und 2015 CEO von Cisco, erfahren kann [3]. Um so interessanter ist das, woran sich unlängst das Magazin „MIT Technology Review“ versucht hat: Zum Zweck der Beantwortung der Frage, ob wir vor einem neuen Jobwunder stehen oder uns stattdessen auf einen Kahlschlag einstellen müssen, wertete man sämtliche verfügbaren Untersuchungen zur Zukunft der Arbeit aus [4]. Allerdings mit einem ernüchterndem Ergebnis: Es existieren ungefähr so viele unterschiedliche Einschätzungen wie es Experten gibt. Man weiß einfach nicht, wie viele Jobs entstehen oder verschwinden werden.

Fortschrittsverweigerung ist keine Option

Wie kann man sich auf eine derart ungewisse Zukunft der Arbeit vorbereiten? Lässt sich, wenn schon die Gegenwart keine Antworten liefert, etwas aus der Vergangenheit lernen – vielleicht aus Wilsons Rede? Tatsächlich enthält sie eine Reihe praktisch zeitlos gültiger, hilfreicher Ideen. Wilson ging von der äußerst vernünftigen Grundannahme aus, dass Jobs nicht durch Fortschrittsverweigerung erhalten werden können, sondern nur über den Weg der Stärkung der Innovationskraft und durch die Erhöhung der Produktivität.

Das zu erreichen ist natürlich wesentlich leichter gesagt, als getan. Und nebenbei bemerkt ließe sich der Niedergang der einst stolzen britischen Automobilindustrie als Paradebeispiel für die Konsequenzen der Missachtung dieses Prinzips anführen. Jedenfalls forderte Wilson als konkrete Maßnahme unter anderem eine Initiative zur Förderung von Wissenschaft und Bildung und sprach sich für mehr Weiterbildung und Qualifizierung aus.

Club der Jobbesitzer

Wie sehr sich die Bilder gleichen: Kürzlich kam das Weltwirtschaftsforum (WEF) in einer Studie zur Zukunft der Arbeit zu dem Schluss, dass hierzulande in den nächsten Jahren mehr als jeder zweite Beschäftigte für die Arbeit der Zukunft fit gemacht werden muss [5]. Die Fortbildung von Mitarbeitern dürfte zur entscheidenden Voraussetzung für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen werden – und für Arbeitnehmer umgekehrt zur Bedingung für die ständige Mitgliedschaft im „Club der Jobbesitzer“.

Bislang geschieht auf diesem Gebiet viel zu wenig. Das zeigt beispielsweise eine neue Bertelsmann-Studie, welche die Tageszeitung „Die Welt“ dazu veranlasst hat, von der „Mär vom lebenslangen Lernen“ zu sprechen [6]. Für den weiteren Verlauf der Digitalisierung sind das keine besonders guten Vorzeichen …

Unterdessen wächst allgemein der Zweifel, dass sich ohne die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens der Verlust des gesellschaftlichen Friedens abwenden lässt, wenn zu der zunehmenden prekären Beschäftigung noch eine angenommene dauerhafte Massenarbeitslosigkeit hinzukommt. Hierzu passt einmal mehr ein Satz aus Wilsons Rede, in dem er vor „high profits for a few“ und „mass redundancies for the many“ warnt [7].

Überfluss oder überflüssig?

Dass man die meisten Menschen für die Wirtschaft bald nicht mehr benötigt, glaubt auch der Zukunftsforscher Yuval Noah Harari, der mit seinem Buch „Homo Deus“ wie seinerzeit Wilson das Bewusstsein für die Folgen der technologischen Revolution schärfen will.

Werden wir also dank der absehbaren gewaltigen Produktivitätssteigerungen im totalen Überfluss leben oder überflüssig und aussortiert? „Heute können wir immer noch entscheiden – aber leider findet in der Öffentlichkeit keine grundlegende Debatte darüber statt“, erklärte Harari 2017 in einem Interview [8].

Quellen:

[1] http://nottspolitics.org/wp-content/uploads/2013/06/Labours-Plan-for-science.pdf

[2] ebd., S. 2

[3] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/digitalisierung-am-wendepunkt-1.2845452

[4] https://www.technologyreview.com/s/610005/every-study-we-could-find-on-what-automation-will-do-to-jobs-in-one-chart/

[5] https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/studie-des-weltwirtschaftsforums-deutsche-arbeitnehmer-nicht-fuer-digitalisierung-gewappnet/23075234.html

[6] https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/bildung/article181665828/Bertelsmann-Studie-Die-Maer-vom-lebenslangen-Lernen.html

[7] s. [2]

[8] https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/cebit2017/zukunftsforscher-yuval-noah-harari-die-meisten-menschen-sind-fuer-die-wirtschaft-ueberfluessig/19553518.html