Welche Relevanz werden Dinge, Errungenschaften – ja Werte – aus der Vergangenheit angesichts zunehmender informationeller Obsoleszenz und technologischer Disruption künftig noch besitzen?

Wir leben für jeden nachvollziehbar in einer Phase der Geschichte, in der Technologien einander immer schneller ablösen und kulturelle Halbwertszeiten sich immer rascher verkürzen. Wohl nicht zufällig sinkt auch die durchschnittliche menschliche Aufmerksamkeitsspanne kontinuierlich. Während die Zahl der Informationen und Eindrücke, die Tag für Tag auf uns einprasseln, gegenüber vergangenen Jahrhunderten regelrecht explodiert ist. Da erscheint es nicht nur aus Sicht des Individuums, sondern auch für Organisationen, Unternehmen und Marken sinnvoll, die Frage zu erörtern, welche Relevanz Dinge, Errungenschaften – ja Werte – aus der Vergangenheit angesichts zunehmender informationeller Obsoleszenz und technologischer Disruption künftig noch besitzen werden.

„Tempus edax rerum.“ – Ovid [1]

„Concedo nulli.“ – Erasmus von Rotterdam [2]

„Alles, was interessant ist, ist neu“, kündet eine Arbeit der US-Künstlerin Jenny Holzer, Teil ihrer zwischen 1979 und 1983 entstandenen Werkserie Truisms ‚Binsenwahrheiten‘, die allgemein akzeptierte Wahrheiten zum Thema hat [3]. Ist der naheliegende Umkehrschluss erlaubt – ist alles, was nicht neu ist, aus Prinzip belanglos?

Der Kunsthistoriker Germano Celant hat festgehalten, wie praktisch zeitgleich mit der Entstehung der Truisms eine allgemeine Faszination an allem einsetzte, das „gegenwärtiger als die Gegenwart“ und „neuer als neu“ [4] ist. Wofür er den passenden Begriff „Contemporaryism“ wählte [5].

Allzu leicht vergisst man: Wir reden hier über eine Zeit, die noch keine permanente Erreichbarkeit kannte. Und auch kein ständiges Starren auf das Smartphone – nur weil gerade irgendwo irgendein „Sack Reis“ umfällt. Was jedoch irgendwie relevant ist, weil es jetzt passiert und nicht irgendwann; weil es neu ist!

Epoche des Hier und Jetzt

Werbetreibende kennen die nachgerade hypnotische Wirkung des alten indogermanischen Adjektivs. Was mit banalen Konsumgütern begann, denen das Etikett „Neu!“ seit Jahrzehnten die Aura des Erstrebenswerten verleiht, hat sich mittlerweile verselbständigt – hat das Leben insgesamt im Griff. Eine rein rhetorische Frage: Wer erinnert sich noch an den vorletzten oder gar vorvorletzten, die sozialen Netzwerke, Talkshows und Schlagzeilen beherrschenden Hype?

Willkommen in der Epoche des Hier und Jetzt! Ein quasi unmögliches Zeitalter – das Oxymoron deutet es an [6]. Eines, in dem paradoxer Weise allein der todgeweihte Augenblick von Dauer zu sein scheint. Dass die durchschnittliche menschliche Aufmerksamkeitsspanne unterdessen kontinuierlich sinkt, muss kein Zufall sein. Jene von Goldfischen haben wir inzwischen unterschritten [7].

Epizentrum der Schnellebigkeit

Und schon kündigen sich mit Augmented und Virtual Reality neuerliche Umwälzungen an, die noch viel folgenreicher werden dürften. Da erscheint es sinnvoll, sich mit folgenden, für das Individuum, für Organisationen, Unternehmen und Marken gleichermaßen bedeutsamen Fragen zu befassen:

Welche Relevanz behalten erstens Dinge, Errungenschaften – ja Werte – aus der Vergangenheit angesichts zunehmender informationeller Obsoleszenz und technologischer Disruption? Und zweitens: Wie schafft man es angesichts immer kürzerer kultureller Halbwertszeiten, auf der Höhe der Zeit zu bleiben?

Dass Letzteres als Erfolgsfaktor nirgendwo wichtiger ist als in der Welt der Mode – traditionell das Epizentrum der Schnelllebigkeit –, versteht sich von selbst. Hier setzt sich durch, wer begriffen hat, „dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss“, wie Jil Sander 1996 in einem Interview verriet, das ihr nebenbei die Auszeichnung „Sprachpanscher des Jahres“ einbrachte – weil ihr Statement zu circa 20 Prozent aus englischen Vokabeln beziehungsweise sprachlichen Eigenkreationen bestand [8].

Bemerkenswerter als die Beobachtung, dass Sprache sich permanent verändert (was sich durch Anprangern nicht aufhalten lässt), ist der Umstand, dass es der deutschen Designerin – gewissermaßen im widrigen Umfeld – gelang, ein Image der Zeitlosigkeit und visuellen Dauer zu festigen.

Historische Kuriositäten

Was aber sagt es über den Zustand unserer Zivilisation aus, dass ausgerechnet die bedeutendsten Kunstmuseen als Bewahrer der wertvollsten Kulturgüter immer intensiver mit dem schönen Schein flirten und allenthalben Mode durch Ausstellungen nobilitieren? Immerhin verhält diese sich diametral entgegengesetzt zu den ursprünglich Bestrebungen der Kunst, für deren Entstehung das Sichsehnen nach Dauer konstitutiv war. Was am leichtesten im Grabmal nachvollziehbar wird – dem „Garant der menschlichen Existenz“, wie Helmut Häusle es formuliert hat [9].

Blockbuster-Ausstellungen von Modedesignern, die Kunstexperten bereits zur Beschäftigung mit der Frage veranlasst haben, warum Kunstausstellungen in denselben Museen weniger populär sind [10], spiegeln nicht nur perfekt den Geist einer von der radikalen Überhöhung des Moments geprägten Zeit wider, sondern geben zudem womöglich Joseph Kosuth recht, der Van Goghs Gemälden denselben Wert beimaß wie dessen Malutensilien. In beiden Fällen handele es sich dem US-Konzeptkünstler zufolge lediglich um Sammlerstücke [11]. Überhaupt seien Kunstwerke kaum mehr als „historische Kuriositäten“ [12].

Eine für Künstler und die Kunst wenig schmeichelhafte Sicht, die den Blick auf unbequeme Fragen lenkt. Zum Beispiel die, ob Marcel Duchamps implizite Kritik am Prozess der Kanonisierung berechtigt war, als er behauptete, aus Zweifel am Wert der Urteile, die über die Aufnahme in die Sammlung entschieden, 20 Jahre lang nicht im Louvre gewesen zu sein [13].

Ein geknickter Zweig

Sind aber sämtliche Versuche des Menschen nicht ohnehin vergebens, das, was ihn bewegt, was er bewahrt wissen möchte, an darstellende Zeichen zu binden, um es so dem Vergessen zu entreißen?

Gemäß Albert Hofmanns Definition von 1906 kann es sich im Einklang mit der Informationstheorie bei einem solchen Träger einer Erinnerung in seiner „einfachsten Form und schlichtesten Bedeutung“ um einen geknickten Zweig, in den Stamm geritztes Zeichen, Erdhaufen oder geschichteten Steinhaufen handeln [14].

Oder um von größter geistiger Durchdringung geprägte Werke wie Marcel Duchamps „Großes Glas“ [15], an dem der Zahn der Zeit bereits deutlich genagt hat. Unübersehbare Sprünge an den beiden Glasplatten, die als Bildträger in einem rund 2,70 Meter hohen Metallrahmen zusammengehalten werden, zeugen von einem frühen Transportschaden aus dem Jahre 1926, drei Jahre nach Fertigstellung. Doch statt die zu weiten Teilen aus Drähten und Metallfolie aufgebaute, an technische Zeichnungen erinnernde Komposition zu entstellen, steigern sie die auratische Qualität des beispielhaft komplexen und stilistisch seinesgleichen suchenden Gemäldes, das überdies prädestiniert ist für einen Vergleich mit einer anderen kulturellen Spitzenleistung.

Zivilisatorische Kernschmelze

Ebenfalls größtenteils aus Draht und Glas (wenngleich aus robusteren Glasfasern) besteht die das Internet konstituierende Infrastruktur. Wird auch sie – wie die Beton- und Asphalt-basierte Verkehrsinfrastruktur – schneller verfallen, als sie erhalten werden kann? Droht mithin ein Großteil unseres aufgezeichneten Wissens zu verschwinden, wie Thomas Grüter vor wenigen Jahren schrieb [16]?

Da dieses Szenario im Extremfall eine zivilisatorische Kernschmelze nach sich ziehen könnte, darf man davon ausgehen, dass rechtzeitig gegengesteuert wird. Sofern sich das Problem in dieser Härte künftig noch stellt: Es darf nicht übersehen werden, dass langfristige Zukunftsprognosen deswegen so selten funktionieren, weil sie Emergenzen nicht antizipieren können. Diese sind es aber, die Entwicklungen wie das Internet überhaupt erst ermöglichen – ausgehend von mechanischen Rechenmaschinen und Telegrafendraht. Und so wäre es äußerst überraschend, wenn wir von der sperrigen und anfälligen Technik noch lange Zeit abhängig blieben, die heute das Rückgrat weltweiter digitaler Kommunikation und Wirtschaft bildet.

Die beste Erfindung des Lebens

Wieder passt Joseph Kosuths Wort von den „historischen Kuriositäten“, in die sich zwangsläufig alles früher oder später verwandelt, egal wie raffiniert oder bahnbrechend. Oder die drastischere Formulierung Theodor Fontanes: „Tand, Tand / Ist das Gebilde von Menschenhand!“ [17] Es ist wie bei einer Performance James Lee Byars, dessen ebenso flüchtige wie enigmatische Auftritte im goldenen Anzug und mit goldenem Hut – Teil eines überaus komplexen, am ehesten noch mit Joseph Beuys vergleichbaren Werkes – entfernt an das Verglühen eines Sterns erinnerten: Ein kurzes, glanzvolles Erscheinen – dann folgt das Nichts.

„Living is a problem, because everything dies“, lautet ein Titel der schottischen Rockband Biffy Cliro [18]. Der 2011 verstorbene Steve Jobs andererseits sprach 2005 in einer viel beachteten Rede vom Tod als der wahrscheinlich besten Erfindung des Lebens, da er der Hervorbringer des Wandels sei [19]. Wenn sein iPhone längst nur noch im Technikmuseum eine Rolle spielt, wird man sich vielleicht wenigstens an diesen Satz erinnern.

Stabwechsel

Nachhaltige Relevanz jedenfalls wird durch die Nachwelt geregelt. Was im Übrigen nichts Neues ist. Die Kunst etwa ‚lebt‘ laut Joseph Kosuth nicht dadurch, dass sie als „physischer Nachlass der Ideen des Künstlers“ [20] existiert, sondern nur indem sie für andere, lebende Künstler brauchbar wird [21].

Der Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards hat das offenbar verstanden. 2002 sprach er in einem Interview mit dem „Rolling Stone Magazin“ von dem „old thing“, das jeder Musiker sich als Epitaph wünsche: „He passed it on“ [22].

Kultur als Stabwechsel, als das Weiterreichen der Fackel. Eine von Weisheit und Bescheidenheit geprägte Sicht, die die eigene Bedeutung weder über- noch unterschätzt. Kann es zu den hier behandelten Aspekten eine pointiertere Zusammenfassung geben?

Quellen:

[1] Die gefräßige Zeit. Die Redewendung „Zahn der Zeit“ leitet sich daraus ab.

[2] Wahlspruch des Erasmus von Rotterdam, der zwar der Ansicht war, dass der Körper dem Tod weichen muss, aber gleichzeitig überzeugt war, dass dieser weder Geist noch Ruhm besiegen kann.

[3] Übers. d. Verf. Titel im Original: Everything that´s interesting is new.

[4] Übers. d. Verf. vgl. Celant, G. (1988): Unexpressionism. New York. S. 6.

[5] ibd. S. 1.

[6] Epoche kommt schließlich vom griechischen Wort für das Anhalten von etwas.

[7] vgl. Attention spans. Consumer Insights, Microsoft Canada, 2015. URL: https://advertising.microsoft.com/en/wwdocs/user/display/cl/researchreport/31966/en/microsoft-attention-spans-research-report.pdf

[8] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sprachpanscher_des_Jahres

[9] Häusle, H. (1980): Das Denkmal als Garant des Nachruhms. Eine Studie zu einem Motiv in lateinischen Inschriften. München. S. 2.

[10] vgl. Abrams, A. Why Are Fashion Blockbusters More Popular Than Art Exhibitions and What Can We Do About It? In: Artnet. Stand: 07.06.2017. URL: https://news.artnet.com/about/amah-rose-abrams-284

[11] vgl. Kosuth, J. (1991): Art after philosophy and after: collected writings, 1966-1990. London. S. 19.

[12] ibd.

[13] vgl. Bürger, P. Duchamp 1987. In: Kunstforum International. Band 100, 1989, S. 211.

[14] Hoffmann, A. (1906): Denkmäler II, Handbuch der Architektur (8.Halbbd. H. 2b). Stuttgart. S. 301.

[15] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marcel_Duchamp#Das_Gro.C3.9Fe_Glas

[16] vgl. Grüter, T. Das absehbare Ende des Internets. In: Telepolis. Stand: 30.10.2015. URL: http://www.heise.de/tp/artikel/40/40301/

[17] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Br%C3%BCck%E2%80%99_am_Tay

[18] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Biffy_Clyro/Diskografie#Singles

[19] vgl. http://news.stanford.edu/2005/06/14/jobs-061505/

[20] (Übers. d. Verf.) s. [11]

[21] ibd.

[22] vgl. Will Keith Richards Bury Us All? In: Rolling Stone. Stand: 07.06.2017. URL: http://www.rollingstone.com/music/news/keith-richards-in-2002-the-rolling-stone-interview-20021017