Symbolbild Digitalisierung, China, zum Interview mit Stephan Scheuer, Sachbuchautor von Der Masterplan: Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft

Wenn es stimmt, dass Nachahmung die höchste Form der Anerkennung ist, muss man sich Sorgen um Europas Zukunft machen. Denn während China lange Zeit fast ausschließlich für das Kopieren westlicher Produkte und Konzepte bekannt war, kommen inzwischen immer mehr eigene Ideen aus seinen rasant wachsenden Industriezentren, deren Namen bei uns kaum jemand kennt. Allein die riesige Zahl der Patente zeigt es.

„Wir werden der globalen Technologie-Revolution der Zukunft vorstehen“, hat Jack Pony, Gründer des Internet-Konzerns Tencent im für viele Chinesen heute typischen Brustton der Überzeugung erklärt [1]. Ebenso wie ihr Selbstbewusstsein kennen Ehrgeiz und Fleiß der zunehmend hervorragend ausgebildeten Chinesen praktisch keine Grenzen; Europa muss auf diese Herausforderung schnellstens kluge Antworten finden.

Nach Einschätzung des Buchautors und erfahrenen China-Korrespondenten Stephan Scheuer beschränkt man sich allerdings bislang auf das Ersinnen von Maßnahmen, die den totalen Ausverkauf von Know-how verhindern sollen, so sie sich denn durchsetzen lassen. An Strategien zur Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit mangelt es hingegen. Darüber, über Realitätsleugnung und sich bietende Chancen im Zeitalter der Digitalisierung sprachen wir mit Scheuer anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Sachbuchs „Der Masterplan: Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft“.

RGBMAG: Herr Scheuer, einer breiten Öffentlichkeit ist noch nicht klar, was mit Chinas Wandel zur digitalen Weltmacht auf uns zukommt; unterdessen reagiert die Politik dies- und jenseits des Atlantiks mit zunehmender Nervosität. Handelskriege seien leicht zu gewinnen, lautet die durch den 45. US-Präsidenten ausgegebene Losung. Nur haben Strafzölle wenig von einem echten Masterplan, wie ihn die Chinesen seit Jahrzehnten konsequent verfolgen. Für Häme gibt es aus europäischer Sicht keinen Grund, zumal wir bei einer intensiveren Auseinandersetzung zwischen der einzigen verbliebenen Supermacht und der aufstrebenden Weltmacht China sicher nicht der lachende Dritte wären. Hat der Westen Peking schlichtweg unterschätzt, etwa weil man insgeheim nach wie vor an die prinzipielle Überlegenheit freiheitlich-demokratischer Gesellschaften glaubt?

Stephan Scheuer: Ja, in Europa ist China sicherlich über lange Zeit unterschätzt worden. Die Chefs und Chefinnen von Firmen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien hatten sich einfach daran gewöhnt, dass sie in der Volksrepublik gute Geschäfte machen könnten. Sie haben sich aber zu sehr auf ihrem einstigen technologischen Vorsprung ausgeruht. Volkswagen verkauft rund jedes zweite Auto in China. Heute merken sie, dass in China Konkurrenten herangewachsen sind, die sie herausfordern. Der chinesische Netzwerkausrüster Huawei ist zum Patentkönig in der EU aufgestiegen – und das vor Industrieikonen wie Siemens. Chinas Firmen holen mit großen Schritten auf. Und langsam ändert sich auch der deutsche Blick auf China. Allerdings noch zu langsam.

RGBMAG: In Ihrem neuen Buch konfrontieren Sie die Leser mit einer unangenehmen Wahrheit: Nach 2008 rettete Europa Banken, China baute seine Infrastruktur mittels eines riesigen Investitionsprogramms auf- beziehungsweise aus. Hierzulande ist man praktisch bereits damit überfordert, die „analoge“ Beton-Infrastruktur vor dem Verfall zu retten. Beim Ausbau der so wichtigen schnellen Datenautobahnen läuft es nun nicht viel besser. Beinahe symptomatisch wirkt es, dass sich VW bei der Kommunikation seiner autonomen Forschungsfahrzeuge für WLAN entschieden hat [2]. Die Chinesen setzen auf 5G – das schnelle Netz der Zukunft. Weil sie es können. Ist Europa nicht längst im Begriff, das Rennen um die digitale Zukunft zu verlieren, weil wir satt sind und zu träge?

Stephan Scheuer: Das Rennen ist noch nicht entschieden. Deutschland und Europa haben noch die Chance, nicht weiter zurückzufallen. Dafür müssen jetzt die richtigen Voraussetzungen getroffen werden. Bald werden bei uns die Frequenzen für den Echtzeitmobilfunk 5G vergeben. Die Bundesnetzagentur hat die Regeln dafür aufgestellt. Jetzt liegt es an den Netzbetreibern Telekom, Vodafone und Telefónica auch schnell ein gutes Netz zu schaffen. Bevor sie das angehen, müssen sie aber dafür sorgen, dass wir endlich gute 4G-Netze bekommen. Denn es ist nicht würdig für eine Industrienation wie Deutschland, dass wir noch so viele Funklöcher entlang unserer Straßen und auch entlang unserer Bahnverbindungen haben. Gerade was den Empfang in den Zügen angeht, muss jedoch auch die Bahn mit einer entsprechenden Ausstattung ihrer Fahrzeuge dafür sorgen, dass wir einen guten Mobilfunkempfang haben.

Und ja, Sie haben Recht, dass es einen Streit zwischen den Autobauern um den richtigen Standard für die Kommunikation zwischen Fahrzeugen gibt. Hier stehen auf der einen Seite Firmen wie Audi, die auf eine Vorstufe der 5G-Technik vom chinesischen Ausrüster Huawei setzen. Auf der anderen Seite steht etwa Volkswagen, der auf eine WLAN-basierende Technik von Siemens setzen möchte. Der Richtungskampf ist noch nicht abschließend entschieden.

RGBMAG: Im Wettbewerb mit China zu bestehen, heißt auch Antworten auf Bedingungen zu finden, die mit Fair Play nichts zu tun haben. Deutsche Mittelständler haben das kennengelernt, aber auch Weltkonzerne wie Google. Die allgemeine Lesart lautet, dass es alle damit verbundenen Nachteile überwiegt, wenn man in China dabei ist. Dennoch nehmen Forderungen nach einem „Level Playing Field“ zu, also gleichen Marktbedingungen für einheimische und ausländische Investoren. Die Zerstrittenheit Europas ist nicht gerade die ideale Voraussetzung für deren Durchsetzung. Sehen Sie trotzdem Chancen für Verbesserungen?

Stephan Scheuer: Der deutsche Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz war gerade erst mit einer großen Wirtschaftsdelegation in China. Und das Besondere war: Die chinesische Seite hat sich auf fast alle Forderungen der Deutschen eingelassen. Die US-Administration unter Präsident Donald Trump setzt China mächtig unter Druck. Deshalb sucht Peking nach Verbündeten. Da ist eine Annäherung an Deutschland sehr willkommen.

Langfristig wird Deutschland allerdings nur zusammen mit Brüssel wirkliche Verbesserungen erreichen. Nur wenn die EU mit einer Stimme sprechen kann, wird es nachhaltige Veränderungen geben. Eigentlich gibt es dafür bereits ein Forum. Seit Jahren laufen Verhandlungen über ein Investitionsschutzabkommen zwischen Brüssel und Peking. Hier geht es unter anderem um einen fairen Marktzugang. Allerdings machen die Unterhändler nur wenig Fortschritte. Das hat auch damit zu tun, dass viele EU-Staaten lieber ihre eigenen Ziele durchdrücken wollen, anstatt sich geschlossen hinter Brüssel zu stellen – das gilt auch für Deutschland. Das muss sich ändern, wenn es wirklichen Fortschritt geben soll.

RGBMAG: Banken ohne Mitarbeiter, Verwaltung per Supercomputer, fahrerlose Autos – noch dazu elektrisch angetrieben, das heißt mit viel weniger Komponenten, an denen zigtausend Jobs hängen … Niemand bezweifelt, dass die Digitalisierung unzählige neue Berufsbilder hervorbringen wird. Andererseits gilt es als ausgemacht, dass ein beträchtlicher Teil der heutigen Berufe schon bald verschwinden wird. Die Politik verhält sich in dem Zusammenhang weitestgehend passiv, weswegen es nicht verwundert, dass die Ängste in der Bevölkerung zunehmen. In einem Gastbeitrag für das Handelsblatt, für das Sie ebenfalls tätig sind, beschrieb Peter Oberegger, CEO der pmOne AG, die Digitalisierung vor einigen Monaten gar als „Schreckgespenst, das die Gesellschaft in Unruhe versetzt“ [3]. Was würden Sie sich als jemand, der in China in vielerlei Hinsicht in die Zukunft schauen konnte, von Politik und Wirtschaft wünschen, damit Deutschland besser auf die zu erwartenden Umbrüche vorbereitet wird?

Stephan Scheuer: Es gibt keine Patentrezepte. Deutschland ist sogar deutlich besser auf die Herausforderungen der Digitalisierung vorbereitet als China. In der Volksrepublik gibt es zwar auf der einen Seite die besonders innovativen Firmen, die jetzt deutsche Konzerne herausfordern. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch viele Fabriken, in denen noch viel Handarbeit stattfindet. Viele dieser Unternehmen stehen nicht an der Stufe zu Industrie 4.0, sondern eher an der Schwelle zu Industrie 2.0. Wenn dort mehr Roboter eingesetzt werden, dürften viele Millionen Arbeitsplätze wegfallen.

Diese Phase hat Deutschland bereits durchlaufen. Auch bei uns werden sich viele Arbeitsplätze verändern und auch einige wegfallen. Aber die Verwerfungen werden nicht so dramatisch sein wie in China.

RGBMAG: Der vielleicht radikalste Wandel in China vollzieht sich aktuell auf dem Gebiet der staatlichen Überwachung. George Orwell schrieb 1946 in seiner Rezension des dystopischen Zukunftsromans „Wir“ von Jewgeni Samjatin, der Einheitsstaat habe das Glück der Menschen wieder hergestellt, indem er ihnen die Freiheit nahm [4]. Tatsächlich fällt es schwer, sich ein restriktiveres System als das in China entstehende vorzustellen – zumindest nicht ohne den berühmten Chip im Kopf. Nichtsdestoweniger besitzt es für viele Chinesen eine nicht zu unterschätzende Attraktivität. Worin liegt diese begründet?

Stephan Scheuer: In China wird entschiedener als irgendwo sonst auf der Welt an der Verbindung von künstlicher Intelligenz und staatlicher Steuerung experimentiert. Peking hat sich nicht von der Idee verabschiedet, Planwirtschaft einsetzen zu wollen. Bislang fehlte es an den Möglichkeiten, von einer zentralen Behörde in Peking aus ein Reich mit fast 1,4 Milliarden Menschen zu lenken. Nun haben Entscheider in Peking die Idee, dass moderne Algorithmen diese Lücke füllen können. Dabei geht es darum, die Umweltverschmutzung einzudämmen oder den Verkehr effizienter zu steuern. Es geht aber auch darum, die staatliche Kontrolle der Bürger und Unternehmen im Land auszuweiten.

Ich denke nicht, dass diese Ansätze nur auf China begrenzt sind. Schon heute sehen wir, dass in China entwickelte Überwachungstechnik auch in den USA oder Europa eingesetzt wird. Wenn Firmen aus der Volksrepublik die modernsten und gleichzeitig oft sogar kostengünstigsten Methoden etwa der Gesichtserkennung entwickelt haben, gibt es auch Behörden und Unternehmen außerhalb Chinas, die das interessant finden. Die Hongkonger Zeitung „South China Morning Post“ hat kürzlich beispielsweise berichtet, dass die Polizei in New York ein Überwachungssystem einer Firma aus China einsetzt, die auch eng mit chinesischen Behörden zusammenarbeitet [5].

RGBMAG: In „Der Masterplan“ geben Sie eine Reihe interessanter Hinweise zu Gelegenheiten, die sich uns trotz der scheinbaren Übermacht Chinas künftig bieten. Die totale Überwachung aller Bürger und Unternehmen zum Beispiel beschreiben Sie als Chance für ein neues digitales „Made in Germany“-Qualitätssiegel. Könnten Sie unseren Lesern kurz erläutern, was Sie darunter verstehen und wie sich daraus ein Geschäft entwickeln lässt?

Stephan Scheuer: Ich halte totale Überwachung nicht nur für falsch. Ich denke auch, dass sie langfristig nicht gegenüber einem offenen politischen System überlegen sein wird. Es mag sein, dass in autoritären Staaten Entscheidungen schneller getroffen und entschiedener umgesetzt werden. Aber dort fehlt es oft an einem Korrektiv – es fehlt eine wirksame Möglichkeit für Kritiker zu warnen, wenn alles falsch läuft.

In Europa haben wir die Chance, von Anfang an offen über den richtigen Umgang mit Daten zu diskutieren. Natürlich soll es möglich sein, dass Krankheitsdaten dazu verwendet werden können, bessere Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Sie dürfen aber nicht verwendet werden, um einzelne Menschen in ihrem Leben einzuschränken oder ihnen gar das Leben zu erschweren, nur weil beispielsweise ihr Erbgut eine Veranlagung für bestimmte Krankheiten enthält. Hier müssen wir die richtige Balance finden.

Ich würde sogar einen Schritt weitergehen. Ich bin davon überzeugt, dass ein sorgsamer Umgang mit Daten ein Qualitätsmerkmal für Deutschland oder sogar für Europa werden kann. Dafür muss der Ansatz konsequent umgesetzt werden. Wir brauchen starke europäische IT-Firmen, die offen damit punkten können, dass sie nicht nur sinnvolle Dienste bieten, sondern auch vertrauensvoll mit den Daten der Nutzer umgehen. Wir sehen, dass Facebook, Google und Co. jetzt viel unternehmen, um sich als transparent und offen zu präsentieren. Doch viele Nutzer glauben ihnen nicht. Hier können europäische Firmen andere Wege aufzeigen.

RGBMAG: 2004 nannte Bush-Herausforderer John Kerry die USA ein Land der Zukunft, dessen beste Tage noch kommen. Mittlerweile scheint der Satz besser zu China zu passen. Überhaupt stellt man sich die Frage, wer außer den Chinesen selbst ihren Aufstieg zur Supermacht verhindern kann. Zuletzt verschärfte sich der Ton Pekings; Präsident Xi Jinping wurde mit den Worten zitiert: „Im Westen gibt es die Neigung, die rechte Backe hinzuhalten, wenn jemand auf die linke geschlagen hat. In unserer Kultur schlagen wir zurück.“ [6] Wagen Sie für uns eine Prognose, wie das Kräftemessen in den nächsten Jahren verlaufen wird? Reichen die gemeinsamen Interessen aufgrund der starken wirtschaftlichen Verflechtung aus, damit es nicht zu einer militärischen Konfrontation kommt?

Stephan Scheuer: Für mich kann es nicht darum gehen, einen Aufstieg Chinas zu verhindern. Europa hat die vergangenen Jahrzehnte stark davon profitiert, dass die Volkswirtschaft wirtschaftlich stark gewachsen ist. Meiner Meinung nach muss es darum gehen, dass Europa einen konstruktiven Austausch mit einem erstarkten China findet. Die Konfrontation, die wir zwischen den USA und China sehen, ist kein guter Weg. Kommt es zum offenen Konflikt, wird es nur Verlierer geben. Es ist normal, dass die Interessen von China, den USA oder Europa nicht immer gleich sind. Doch es muss darum gehen, sinnvolle Kompromisse zu finden. Deutschland alleine ist zu klein, um eine sinnvolle Rolle in dieser Entwicklung zu spielen. Nur die EU als Ganzes kann in der Lage sein, klare Positionen zu entwickeln und sie gegen China offen zu verteidigen. Aber noch fehlt der EU eine klare China-Politik.

Im Jahr 2016 hatte die EU-Kommission schon mal eine China-Strategie überarbeitet. Doch dann wurden die Anstrengungen von Brüssel immer wieder von den Partikularinteressen einzelner EU-Staaten torpediert. So kommen wir nicht weiter. Wir müssen gegenüber China klare Interessen äußern und uns überlegen, wo wir auch auf die Forderungen von Peking eingehen können. Das funktioniert aber nur, wenn die EU-Staaten voll hinter Brüssel stehen.

RGBMAG: Herr Scheuer, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Die Fragen stellte Michael Graef.

Quellen:

[1] Scheuer, S. (2018): Der Masterplan: Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft. Freiburg im Breisgau. S. 185.

[2] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/standards-fuer-kommunikation-wie-europa-und-china-um-die-technik-fuers-autonome-fahren-kaempfen/23252642.html

[3] http://www.handelsblatt.com/my/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-zum-digitalen-wandel-deutschland-muss-seine-ressourcen-nutzen-seine-koepfe/20918582.html

[4] http://www.orwelltoday.com/weorwellreview.shtml

[5] https://www.scmp.com/news/china/science/article/2181749/chinese-technology-helping-new-york-police-keep-closer-eye-united

[6] https://www.dw.com/de/usa-vs-china-ein-technologiekrieg/a-44391823