Symbolbild: Standortfaktor: Work in progress oder Grüne Hauptstadt Essen, COLD PERFECTION

COLD PERFECTION hat seine Homebase in Essen. Die Kulturhauptstadt Europas 2010 und Grüne Hauptstadt Europas 2017 steht wie kaum ein anderer Ort für technologischen Wandel und Ideenvielfalt.

Grün gilt bekanntlich als Farbe der Hoffnung. Insofern kann Essen zuversichtlich in die Zukunft blicken. Denn obwohl außerhalb Nordrhein-Westfalens wohl nur eine Minderheit Bescheid weiß: Die Ruhrmetropole ist zur drittgrünsten deutschen Stadt aufgestiegen – während die Wahrnehmung des „Ruhrpotts“ insgesamt noch immer ein Stück weit von Bildern aus längst vergangenen Tagen beeinflusst wird. Am besten lässt sich das mit den Worten Herbert Grönemeyers ausdrücken, der seine Heimat- bzw. Essens östliche Nachbarstadt Bochum 1984 als „vor Arbeit ganz grau“ beschrieben hat [1].

Als der Himmel über Essen blau wurde

Doch schon vor mehr als einer Generation haben grundlegende Veränderungen der Arbeits- respektive Wirtschaftswelt eine bemerkenswerte Metamorphose ausgelöst; eine viel beachtete Ausstellung des Essener Ruhrlandmuseums erinnerte von Oktober 1998 bis Februar 1999 unter dem treffenden Titel „Als der Himmel blau wurde“ daran [2]. Sie fand noch in den alten, zum Rüttenscheider Museum Folkwang gehörenden Räumlichkeiten statt.

Unter dem gekürzten Namen „Ruhr Museum“ fand die Sammlung 2010 eine neue, großzügigere Heimat in der ehemaligen Kohlenwäsche auf Zollverein [3]. Der aus Zeche und Kokerei bestehende frühere Industriekomplex im Essener Norden, den die UNESCO 2001 zum Welterbe erklärte, spiegelt denn auch am eindrücklichsten den Wandel der Stadt bzw. des gesamten Reviers wider.

UNESCO Welterbe

Herausragende kulturelle Institutionen – darunter das international bedeutende Red-Dot-Design-Museum – und beispielsweise auch innovative Startups beleben heute jenen Ort, an dem 1890 erstmals die Grenze von einer Million Tonnen Steinkohle Jahresförderung überschritten wurde, was Zollverein zum ertragreichsten deutschen Bergwerk machte. In der Glanzzeit stieg der Wert gar auf über dreieinhalb Millionen Tonnen, produziert von fast siebentausend Mitarbeitern [4].

Die „Kumpel“ aus dem „Kohlenpott“ haben sich nicht zuletzt in den harten Nachkriegsjahren um ihr Land verdient gemacht. Vereinfacht ausgedrückt ist es ihnen zu verdanken, dass in Deutschland überhaupt etwas lief, damals in der „Stunde Null“. Eingedenk dieser Tatsache wird es nachvollziehbar, warum der Vorstellung vom Ruhrgebiet als ein von schwerer körperlicher Arbeit, Ruß und Staub geprägter Ort selbst harte Fakten wie das Zechensterben, das vor über einem halben Jahrhundert begann, lange Zeit wenig anhaben konnten.

Kulturhauptstadt Europas 2010

Dass das Ruhrgebiet als mit knapp viereinhalbtausend Quadratkilometern und mehr als fünf Millionen Einwohnern größter Ballungsraum Deutschlands hingegen nie nur aus „Maloche“ bestanden hat, sondern es dank idyllisch-uriger Orte, herzlicher, offener und ungekünstelter Menschen sowie einer beispielhaften landschaftlichen und kulturellen Vielfalt spielend mit den schönsten Orten Deutschlands aufnehmen kann, wird auswärtigen Gästen jeweils schnell klar. Verdientermaßen wurde Essen daher – stellvertretend für das Ruhrgebiet – 2010 die Ehre zu Teil, den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ tragen zu dürfen [5].

Grüne Hauptstadt Europas 2017

Seine endgültige Nobilitierung als besonders lebens- und liebenswerter Ort erhielt Essen dann zuletzt durch die Auszeichnung „Grüne Hauptstadt Europas 2017“ [6]. Gewürdigt wird damit freilich neben dem Status quo als grünste Stadt Nordrhein-Westfalens auch die anstrengende Reise dorthin sowie der andauernde Prozess der Umwandlung einstiger Industrieflächen in Erholungs- und Erlebnisräume für die inzwischen wieder über 580.000 Einwohner. Die Renaturierung von zu stinkenden Kloaken verkommenen Bächen gehört dazu, aber auch der Ausbau einer jahrelang brach liegenden, weit verzweigten ehemaligen Güterbahnstrecke zum großzügigen Rad- und Wanderwegenetz. Hier hat Grün buchstäblich Vorfahrt.

Betrachtet man alte Fotos aus den frühen 60er Jahren, auf denen man erkennt, wie Spaziergänger staunend vor verdächtig auf dem Wasser schwimmenden weißen Schaumbergen innehalten, und jene, auf denen verendete Fische auf dem Fluss treiben [7], der eigentlich der Trinkwassergewinnung vorbehalten war [8], dann weiß man erst zu schätzen, dass das zum Essener Baldeneysee aufgestaute Wasser der Ruhr nunmehr wieder zum Baden freigegeben werden kann [9].

Darf der Strukturwandel der letzten Jahrzehnte deshalb als eine reine Erfolgsgeschichte angesehen werden?

Europa im Kleinen

Eine Möglichkeit zur Klärung dieser Frage und zur Annäherung an das Ruhrgebiet besteht darin, es als eine Art Europa im Kleinen zu betrachten. Gemessen an seiner Heterogenität fällt das gewiss nicht schwer. Ebenfalls augenfällig sind die Parallelen bei den mannigfaltigen Problemen. Und egal ob man das Ruhrgebiet nimmt oder die Europäische Union – in beiden Fällen wird der Blick auf das bisher Erreichte, das sich hier wie da sehen lassen kann, allzu leicht von diesen verstellt.

Populisten tragen einen großen Teil dazu bei, indem sie Menschen weiszumachen versuchen, Komplexität sei quasi die Folge einer Verschwörung des Establishments. Dabei ist Wandel, das weiß man im Ruhrgebiet zur Genüge, nun einmal eine sehr mühevolle Angelegenheit; jedes erreichte Ziel ist stets nur Zwischenhalt auf einem nie enden wollenden, steinigen Weg …

Work in progress

Im Leben, das wird gerne übersehen, ist aber letzten Endes ohnehin alles nur „Work in progress“; kaum hat man ein wenig verschnauft, tauchen am Horizont bereits neue Herausforderungen auf. Heutzutage heißen ein paar davon Digitalisierung, protektionistische und nationalistische Tendenzen, Klimawandel und die weiter rasant steigende Erdbevölkerung.

Hier im „Pott“ lautet jedoch die Devise „Bange machen gilt nicht!“, denn schließlich haben die Menschen zwischen Rhein und Ruhr bei der Bewältigung der beiden großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll bewiesen, dass sie gemeinsam anpacken, füreinander einstehen und härteste Bewährungsproben meistern können. Wohl deshalb grüßen sie sich auch in Zeiten, in denen Informationen als „Gold des digitalen Zeitalters“ das „schwarze Gold“ von der Ruhr abgelöst haben, häufig mit einem freundlichen „Glück auf!“ – einer der optimistischten Grußformeln, die die Menschheit kennt.

Und auch wenn dieser wundervolle Bergmannsgruß ursprünglich aus dem sächsischen Erzgebirge stammt [10], so ist auch das wiederum typisch für das Ruhrgebiet als faszinierender Schmelztiegel der Kulturen.

Autor: Michael Graef, 24. Juli 2017

Quellen:

[1] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/4630_Bochum#Titelliste

[2] vgl. Schneider, S. (Hrsg.; 1998): Als der Himmel blau wurde – Bilder aus den 60er Jahren. Bottrop, Essen.

[3] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ruhr_Museum

[4] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zeche_Zollverein

[5] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Essen

[6] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Umwelthauptstadt_Europas#Essen_2017

[7] s. [2], S.169

[8] Wesentlich schlechter als der Ruhr, die den Essener Süden durchfließt und nach wie vor der Trinkwasserversorgung bzw. -gewinnung dient, erging es der Emscher, die Essen im Norden von Bottrop trennt, und die zum Zwecke der Ableitung von Abwässern in ein enges Betonkorsett gezwängt wurde, aus der sie in den kommenden Jahren jedoch durch eine gewaltige und kostspielige Anstrengung befreit werden soll – bei gleichzeitiger Umleitung der Abwässer in Rohrleitungen, was zu einer gehörigen landschaftlichen Aufwertung führen dürfte.

[9] vgl. http://www.rp-online.de/nrw/panorama/baldeneysee-baden-in-der-ruhr-ist-offiziell-moeglich-2017-aid-1.6839112

[10] vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Glückauf

Tags: Ruhrgebiet, Essen, Strukturwandel, Umwelt, Kultur

 
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