Symbolbild zum Artikel Eine kurze Geschichte der Vernetzung von Michael Graef für RGBMAG

Die eigene Erfahrung ist laut Oscar Wilde ein sehr enger Teufelskreis [1]. Glücklicherweise gewährt uns die menschliche Kultur als eine Geschichte der Vernetzung einen gewissen Schutz vor den Gefahren permanenter Selbstbespiegelung, vor denen schon das antike Narziss-Topos eindrücklich warnt.

Eine andere griechische Sage berichtet gewissermaßen von der Entfachung der Zivilisation durch Prometheus. Und tatsächlich lieferte die Zähmung des Feuers als epistemologisches „Fiat Lux“ bekanntlich den metabolischen Freiheitsgrad, der die Evolution unseres genauso wissbegierigen wie energiehungrigen Gehirns so entscheidend vorangetrieben hat. Darüber hinaus begünstigte das Feuer den mündlichen Erfahrungsaustausch, indem es die vielen Fressfeinde auf Distanz hielt.

Über die Jahrtausende gelang es der Menschheit freilich, sich ihrer Gegner bis auf einen – sich selbst – entweder zu entledigen oder sie zu marginalisieren. Aus heutiger Sicht will dieser Beweis für die Leistungsfähigkeit früher kommunikativer Vernetzung nicht nur gefallen, erscheint er doch im Kontext der Debatte um das Anthropozän fast wie ein Menetekel; aber das ist ein Thema für sich.

Die ganze Welt in einem Gehirn

Dem Aufkommen der Schriftkultur verdanken wir einen der wichtigsten zivilisatorischen Sprünge. Sie bescherte uns verlässliche Exaktheit bei der Wissensweitergabe und half bei der Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit. Zum Beispiel mithilfe von Briefen – wie jenem berühmten, in dem das Jahrtausendgenie Isaac Newton gegenüber Robert Hooke in vornehmster Bescheidenheit das Zustandekommen seiner Beiträge zur Wissenschaft anhand des Rekurrierens auf die alte Metapher vom Stehen auf den Schultern von Riesen erklärt [2]; quasi eine vertikale, diachronische Form der Vernetzung.

Während es in Mode gekommen ist, technische Entwicklungen vergangener Jahrhunderte als prototypisches „sowieso“-Internet zu bezeichnen – etwa die Telegraphie als „viktorianisches Internet“ –, lassen sich umgekehrt bei dem hundert Jahre nach besagter Korrespondenz Newtons geborenen Alexander von Humboldt Überlegungen und Methoden entdecken, die es rechtfertigen ihn als eine Art Vordenker des World Wide Web anzusehen [3]. Ausgerechnet den Mann also, der gern zu den letzten Universalgelehrten gezählt wird, die alle relevanten Theorien und Bestandteile des Weltbildes ihrer Zeit erfassen konnten.

Die ganze Welt in einem Gehirn! Dergleichen wurde infolge der Wissensexplosion der letzten zwei Jahrhunderte prinzipiell undenkbar. Zuletzt kam der unvorstellbar mächtige digitale Datenstrom hinzu, der die alte Ordnung des Aufeinanderfolgens von Ereignissen durch die Unordnung des Gleichzeitigen ersetzt hat – wie von Paul Virilio, Philosoph und Begründer der Dromologie als der Wissenschaft von der Geschwindigkeit, in den frühen 90er Jahren vorhergesagt [4]. Was wieder einmal Alexander von Humboldts berühmtes Diktum bestätigt, wonach dem späteren Wissen stets ein früheres Ahnen vorausgeht.

Echt künstlich

Das Internet nicht erahnt zu haben, wird dem Science-Fiction-Genre nachgesagt. Dafür findet man in zahlreichen Variationen durchdekliniert, was heutzutage als nächste technologische Revolution in den Startlöchern steht: eine Melange aus künstlicher Intelligenz und virtueller Realität. Sie wird eines Tages all die bislang vom Internet verursachten Umbrüche als sanftes Vorgeplänkel erscheinen lassen. Des Weiteren wird sich unser Verständnis von Wirklichkeit gravierend ändern.

In Anbetracht von Kampfbegriffen wie „alternative Fakten“ und „Fake-News“ möchte man meinen, dass die Welt hinreichend für die Vermischung und Vertauschung von Schein und Wirklichkeit sensibilisiert ist, an der beispielsweise die Vernetzung in den Social Media einen großen Anteil hat. Kaum geredet wird hingegen über die gewaltigen Fortschritte bei der computergestützten (Echtzeit)Manipulation von Texten, Bildern, Videos oder Stimmen. Alles kann inzwischen irritierend gut nachgeahmt oder umfrisiert werden. Wird die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Inszenierung sogar für Forensiker unmöglich, könnten die Folgen für unsere freiheitlich-demokratische Ordnung verheerend sein.

Wer behält in der künstlichen Realität der Zukunft die Kontrolle? Oder besser: wer erlangt die Macht, Fiktion in Realität zu verwandeln? Und behalten diejenigen recht, die wie Elon Musk [5] seit Jahren vor der grundsätzlichen Unkontrollierbarkeit von künstlicher Intelligenz warnen? Kommt hier ein „Game Changer“ vom Format der Atombombe auf uns zu?

Ultimativer Rohstoff

Auch eine weitere Unterscheidung wird irgendwann wegfallen: die zwischen on- und offline. Das Internet wird uns wie die Luft zum Atmen umgeben – so ähnlich wie bei Nikola Teslas nie verwirklichter Vision von den Stromtürmen, die riesige Gebiete kabellos mit elektrischer Energie versorgen sollten [6]. Viel wird heute über offline verbrachte Zeit als neuer Luxus gesprochen. Wird es in Zukunft überhaupt das Recht auf eine zeitweilige Abkopplung vom Netz geben?

Außer Zweifel steht jedenfalls, dass die Interaktion mit Computern bald so intuitiv und natürlich geschieht wie von Mensch zu Mensch; Smart Speaker zeigen, wohin die Reise geht. Sprach- und Gestensteuerung werden um Mimik und den Ausdruck der Augen ergänzt, dadurch werden wir – wenn wir es zulassen – im Gegenzug andauernd tiefgreifend analysiert. Unentwegt wird – selbstverständlich zu unserem Besten – abgelesen, ob wir uns freuen, die Unwahrheit sagen oder Vorbehalte haben.

Für Vorbehalte sorgen dürfte ebenfalls das Überschreiten der „Final Frontier“ auf dem Weg in die lückenlos vernetzte Welt von morgen: das unmittelbare Andocken des menschlichen Gehirns als das komplexeste Netzwerk an die Maschine. Längst ist ein Wettlauf um die Eroberung der Gedanken als ultimativer Rohstoff entbrannt. Man stelle sich künftige Schlagzeilen vor: „Hacker übernehmen das Gehirn des US-Präsidenten!“ Vorausgesetzt, es gibt dann noch freie Berichterstattung.

Zu Risiken und Nebenwirkungen

Wem all das, was sich abzeichnet, Angst macht oder widernatürlich vorkommt – Stichwort Transhumanismus –, der sei daran erinnert, das uns bereits das Feuer von unserem früheren Selbst unumkehrbar entfremdet hat (siehe oben). Ebenso kann der gegenwärtige „Homo Smartphonicus“ als partieller Cyborg begriffen werden. Schließlich ist hinlänglich bekannt, dass das Bewusstsein, dass sich alles notfalls googeln lässt, dazu führt, dass digital rezipierte Inhalte nicht sonderlich gut abgespeichert werden. Und ohne Gadgets und Google droht, Klischee hin oder her, die digitale Amnesie [7].

Bleibt zum Schluss die Frage, ob alles unbedingt miteinander vernetzt werden muss; sie wurde unlängst in einem Interview zum Thema Smart Home Martin Vesper gestellt, dem Chef des Unternehmens Digitalstrom. Eine legitime Frage, denn mit vermeintlich harmlosen Dingen wie vernetzten Fernsehern, Kühlschränken und Kaffeemaschinen kommen Milliarden zusätzlicher Einfallstore für Cyberangriffe. Von den volkswirtschaftlichen Risiken, die aus der völligen Vernetzung von Produktion und Logistik resultieren – Stichwort Digitalisierung und Industrie 4.0 –, ganz zu schweigen. Vespers Antwort fiel sozusagen lebensklug aus: „Erst wird vernetzt, dann kommen die Ideen.“ [8] Warum sollte es dieses Mal anders sein, als bei allen grundlegenden Technologiesprüngen der Vergangenheit? Stets müssen nachfolgende Generationen Lösungen für die im Nachhinein auftauchenden Probleme finden. Oder um ein versöhnlicheres Wort Oscar Wildes zu bemühen: „Unzufriedenheit ist der erste Schritt in Richtung Fortschritt.“ [9]

Hinweis:

Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags von Michael Graef ist ebenfalls erschienen in der neuen Publikation der Initiative „Wissenschaftsstadt Essen“ namens „Edition #01“ – https://wissenschaftsstadt-essen.de

Quellen:

[1] Im engl. Original: „Personal experience is a most vicious and limited circle.“ Vgl. Wilde, O. The Decay of Lying. In: Complete Works of Oscar Wilde. Glasgow, 1994, 1085.

[2] Westfall, R (1996): Isaac Newton. Eine Biographie. Heidelberg, Berlin, Oxford: S. 143.

[3] Ette, O. (2009): Alexander von Humboldt und die Globalisierung: Das Mobile des Wissens. Berlin.

[4] Virilio, P. (1992): Rasender Stillstand: Essay. München, Wien.

[5] Stöcker, C. Denkende Waffen: Künstliche-Intelligenz-Forscher warnen vor künstlicher Intelligenz. In: Spiegel Online. Stand: 27.04.2018. URL: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/elon-musk-und-stephen-hawking-warnen-vor-autonomen- waffen-a-1045615.html

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Wardenclyffe_Tower

[7] Kaspersky Lab: From Digital Amnesia to the Augmented Mind. URL: https://media.kaspersky.com/pdf/Kaspersky-Digital-Amnesia-Evolution-report-17-08-16.pdf

[8] Heuzeroth, T. „Niemand zwingt uns, Datenmonopole zu akzeptieren“ – Digitalstrom: Chef Martin Vesper über Vernetzung und Künstliche Intelligenz. In: Die Welt. Stand: 27.04.2018. URL: https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article163531093/Niemand-zwingt-uns-Datenmonopole-zu-akzeptieren.html

[9] Übers. d. Verf. Im engl. Original: „Discontent is the first step in the progress of a man or a nation.“ Vgl. Wilde, O. A Woman of No Importance. In: Complete Works of Oscar Wilde. Glasgow, 1994, S.490.