Der chinesische Kaufmann, Politiker und Philosoph Lü Buwei schrieb vor rund 2300 Jahren einen bemerkenswerten Satz – wie geschaffen, um ihn einer Beschäftigung mit der heute zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde voranzustellen: „Der Weise scheint in seinem Handeln langsam und ist doch schnell, er scheint zögernd und ist doch geschwind: weil er auf die rechte Zeit wartet.“
Diese Zeit ist nun offenbar gekommen: China, vor wenigen Jahren noch Entwicklungsland, ist auf dem besten Weg sein selbstgestecktes Ziel für den 100. Gründungstag der Volksrepublik im Jahr 2049 zu erreichen und zur „Industriemacht“ aufzusteigen. Nun ist je nach Definition des Begriffs das Ziel längst erreicht, denn global gesehen kommt an den Chinesen niemand mehr vorbei. Immer selbstbewusster agiert Peking und setzt seine globalen Interessen durch. Beispielsweise in Afrika, wo man sich Rohstoffe und Agrarland in großem Umfang sichert, während andere Nationen verwundert zuschauen. Oder im südchinesischen Meer, wo die Vereinigten Staaten deutlich zu spüren bekommen, dass sie als Weltpolizist nicht länger erwünscht sind.
Die Vergangenheit verwalten
Die geopolitische Zeitenwende macht sich nicht zuletzt für Europa unangenehm bemerkbar, das wegen der fraglich gewordenen Sicherheitsgarantien des transatlantischen Bündnisses auf die eigene Verwundbarkeit zurückgeworfen wird. Anstatt jedoch endlich mit den Hausaufgaben zu beginnen, widmet man sich weiterhin Nebenkriegsschauplätzen und verzettelt sich mit gegenseitigen Schulmeistereien und Streitereien um egoistische Einzelinteressen. Darüber geraten die wirklichen Schicksalsfragen zur Randnotiz oder werden gleich völlig übersehen: Chinas rascher Aufstieg zur Digitalmacht zum Beispiel, dem man auf dieser Seite des Globus abgesehen von Selbstgefälligkeit bislang wenig entgegenzusetzen hat …
Auf die Frage, wie es so weit kommen konnte, hätten chinesische Spitzenfunktionäre für ihre Kollegen aus Washington, Brüssel oder Berlin gewiss eine verblüffend einfache Antwort parat; eine, die uns als Demokraten nicht gefallen kann: Die ständigen Regierungswechsel im Westen wirken lähmend. Und im Gegensatz zur Bundesregierung, die seit vielen Legislaturperioden nahezu ausschließlich die Vergangenheit verwaltet, setzt man in China langfristige Pläne – wie von Lü Buwei beschrieben – scheinbar langsam und doch schnell um.
Wer kopiert von wem?
Mit großer Ver- beziehungsweise Bewunderung blicken Europäer nach wie vor auf das Silicon Valley als den Ort, von wo aus man vor vier Jahrzehnten bei Computern und Netzwerken grandios abgehängt wurde. China, das ist nicht hinreichend verstanden, verfügt inzwischen über drei solcher Hightech-Zentren. Dort werden nicht mehr nur europäische oder US-amerikanische Erfindungen kopiert, sondern die künftigen Megatrends gesetzt. Dazu zählen künstliche Intelligenz, Elektromobilität und selbstfahrende Autos – Gebiete, auf denen Deutschland den Anschluss zu verlieren droht.
Es ist also allerhöchste Zeit zu erkennen, was die Stunde geschlagen hat. Vielleicht sollten Entscheidungsträger – nicht nur in Deutschland – zu diesem Zweck gelegentlich zu dem neuen Buch von Stephan Scheuer greifen.
Der Masterplan
Mit „Der Masterplan: Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft“ hat der erfahrene China-Korrespondent und Handelsblatt-Journalist Stephan Scheuer eine faszinierende Momentaufnahme der Internet-Supermacht vorgelegt, die den Lesern quasi en passant unzählige Fakten zu historischen Hintergründen und kulturellen Besonderheiten zur besseren Einordnung an die Hand gibt. So fällt es sehr viel leichter zu verstehen, wieso der aus unserer westlichen Perspektive Angst einflößende Überwachungsapparat samt Bonussystem, der derzeit ausgerollt wird – er ist den berühmten literarischen Dystopien Samjatins, Huxleys und Orwells mindestens ebenbürtig –, den Chinesen in vielerlei Hinsicht attraktiv erscheint.
Nebenbei trainieren die praktisch lückenlos aggregierten Echtzeitdaten des „großen Bruders“ Algorithmen, die früher oder später auch unser Leben verändern dürften. Etwa für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass demnächst einer der vielen potenten chinesischen Investoren zu einem deutschen Handelsunternehmen greift, um den Markt bei uns umzukrempeln. Alibaba wäre ein möglicher Kandidat mit einer gut gefüllten Kriegskasse …
Neue Weltordnung
Überhaupt muss man sich allmählich an neue Namen an der Spitze der weltweiten ‚Nahrungsketten‘ gewöhnen – Baidu, Tencent, Huawei, Xiaomi, Byton u. v. a. m. Die Zeit des Aufklebens westlicher Markennamen auf in China hergestellte Produkte als Ausdruck der US-amerikanischen und europäischen Überlegenheit läuft nämlich gerade ab.
Das führt uns zu der entscheidenden Frage, wer Chinas Aufstieg zur Weltmacht noch stoppen kann. Der 45. US-Präsident, der bislang auf Abschottung und Konfrontation setzt, statt auf Wettbewerbsfähigkeit über Bildung, Forschung und Investitionen in exportfähige Zukunftstechnologien?
Plausibler wirkt die Idee, dass China lediglich an sich selbst scheitern kann. Zum einen steht der historische Beweis aus, dass es möglich ist, eine Volkswirtschaft dauerhaft zentralistisch auf Erfolgskurs zu halten. Zum anderen hat China mit vielen gravierenden Problemen zu kämpfen: Demografie, Verschuldung und massive Umweltzerstörung lauten drei davon.
Wenn der Handel aufhört …
Nichtsdestoweniger ist China von seinem wirtschaftlichen Aufstieg wie berauscht. Ein schier grenzenloses Selbstbewusstsein drückt sich auch in den Statements seiner mächtigsten Unternehmer aus. Einer von ihnen heißt Jack Ma; Stephan Scheuer zitiert den einflussreichen Gründer von Alibaba mit den beunruhigenden Worten: „Wenn der Handel aufhört, dann wird es Krieg geben.“
Kann ein derart epochaler Machtwechsel in der Welt eigentlich friedlich verlaufen? Die von Militärexperten gelegentlich geäußerten Warnungen vor einem baldigen Zusammenprall mit den vom Thron gestoßenen USA sind leider keineswegs abwegig. Man kann nur hoffen, dass die Einsicht, dass dies auf einen Doppelselbstmord hinausliefe – ein Schicksal vor dem die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewarnt hat –, den Wahnsinn wird verhindern können.
Der Wiederaufstieg
Welche Rolle werden wir Europäer in der anbrechenden neuen Weltordnung spielen? Die eines wichtigen Partners der Chinesen auf Augenhöhe? Oder verkümmert Europa zu einer über die neue Seidenstraße angedockten, politisch wie wirtschaftlich vollständig abhängigen Kolonie? Aus heutiger Sicht mag dieser Gedanke sicher vielen absurd vorkommen. Für China allerdings bedeutet der Aufstieg gleichzeitig einen Wiederaufstieg nach einer zweihundert Jahre dauernden Phase der Schwäche, die mit den unvergessenen Demütigungen durch die europäischen Kolonialmächte begann; damals waren die Rollen andersherum verteilt …
Was die Zukunft tatsächlich bringt, kann Stephan Scheuer nicht vorhersagen. Den Lesern ein umfangreiches Verständnis von Chinas Istzustand zu vermitteln (und dem langen und oft schmerzlichen Weg dorthin), gelingt ihm hingegen mit Bravour. Dafür gebührt ihm große Anerkennung und seinem neuen Buch eine klare Leseempfehlung.
Bleibt zu erwähnen, dass Scheuer nicht zu denen gehört, die keine Lösungen anzubieten haben und stattdessen klagen und jammern. Ganz im Gegenteil – aber lesen Sie selbst …
Stephan Scheuer
Der Masterplan: Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft
224 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag.
Verlag Herder. ISBN: 978-3-451-39900-8
€ 22,-
Weitere Informationen:
https://www.herder.de/geschichte-politik-shop/der-masterplan-gebundene-ausgabe/c-34/p-13660/