Wie lebt es sich auf der Überholspur des Lebens, während man beim Abspulen von Extrameilen vom ungeschliffenen Rohdiamanten zum „Top Talent“ geformt wird, nach dem sich alle Headhunter die Finger lecken? Charlie Kant blickt für ihr neues Buch „WIE LANG IST DIE EXTRAMEILE? Eine Unternehmensberaterin misst nach“ hinter die Kulissen der geheimnisvollen Welt der Unternehmensberater, in der mehr Schein als Sein definitiv von Vorteil ist.
Für das Vermessen gab es einmal einen besonderen Fachmann. Vor rund 250 Jahren wurde er geboren. Ein gewisser Daniel Kehlmann verdankt der Auseinandersetzung mit ihm und einem anderen bekannten Forscherkollegen einen der größten Bucherfolge der deutschen Nachkriegsliteratur [1]. Einen ähnlich großen Namen wie Alexander von Humboldt beziehungsweise Carl Friedrich Gauß trägt die Autorin in unserem Fall, nämlich Kant. Charlie Kant. Ihren Lesern verrät sie, warum das nicht unbedingt Vorteile bringt – was nicht am geschlechtsneutralen Vornamen liegt. Kant hat sich für ihr Buch ebenfalls mit dem Maßnehmen beschäftigt. Als findige Aufklärerin (nomen est omen!) ist sie spielend in der Lage, die titelgebende Frage hinsichtlich der Länge der Extrameile zu beantworten, von der all die smarten und erfolgreichen Leute – oder die, die es gern wären – gegenwärtig dauernd reden.
Augen auf bei der Berufswahl
Ja, Charlie Kants Buch handelt vom Thema Karriere. „Augen auf bei der Berufswahl“, wäre übrigens ebenso ein passender Titel gewesen. Die Psychologin, die eigentlich Meeresbiologin werden wollte, hätten Gehaltstabellen sie nicht davon abgebracht, arbeitete vier Jahre lang in Unternehmensberatungen. Der Parforceritt durch die wunderbare – oder besser gesagt wunderliche – Welt der „Miles & More“-Nomaden, auf den sie ihre Leser mitnimmt, fühlt sich zum Glück nicht anstrengend an. Viel zu unterhaltsam ist das Buch geschrieben. Was wohlgemerkt kein Manko ist – im Gegenteil! Womöglich funktioniert es überhaupt nur deswegen so gut, da man andernfalls recht schnell gelangweilt wäre vom Jammern auf höchstem Niveau über das, was Kant und den übrigen Protagonisten als Gegenleistung für hohe Einkommen, Spesenkonten und viele sonstige „Fringe Benefits“ abverlangt wird. Nicht zu vergessen das weltweite Herumvagabundieren auf Firmenkosten, was durchaus interessant sein kann für junge und ungebundene Menschen. Zumindest dann, wenn man nicht zu einem Kunden ins Allgäu entsendet wird – was sich offenbar für an „Executive Lifestyle“ gewöhnte Karrieristen wie ein Gulag ausnimmt.
Manche nennen es Arbeit
Prekär geht anders und von einem Enthüllungsbuch à la Günter Wallraff sind wir hier meilenweit entfernt. Kants Buch wirkt stark überzeichnet und zugleich beklemmend real. Das kommt bei der Beschreibung einer Wirklichkeit heraus, die zu ihrer eigenen Karikatur mutiert ist. Die Gründe lassen sich am einfachsten erklären, indem wir Charlie Kants Oma hinzuziehen: „Und dafür zahlen euch die Kunden SO viel?“ [2], fragt sie ihre Enkelin mit ungläubigem Staunen, nachdem sie von ihr erfährt, was diese in ihrem sonderbaren Beruf den ganzen Tag macht, von dem sie als Angehörige der Generation, die „richtig“ arbeiten musste, nie zuvor gehört hat. Oma hat es zweifelsohne kapiert! Die Dire Straits nannten so etwas „Money for nothing“. Wobei es zugegebenermaßen um andere Summen ging. Und auf der anderen Seite um Möbelpacker, deren hartes Brot Mark Knopfler kontrastierend zu den Reichen und Schönen besang [3].
Denkabwehrwaffen
Geliefert wird auch bei Charlie Kant, jedoch keine Küchenmöbel. „Deliverables“ nennt man das, was pünktlich zur „Deadline“ auf dem Tisch respektive im Mail-Eingang landen muss; Menschen mit Erfahrung im Bereich Projektmanagement wissen es natürlich. Und droht dem Kunden der fehlende „Value Add“ dessen, was beim letzten „All-nighter“ auf der Extrameile „Client-ready“ vorbereitet wurde, aufzufallen, verfügt der erfahrene Unternehmensberater über ein Arsenal schmissiger Vokabeln, die – zusammengefügt zu beeindruckenden Satzungetümen – zuverlässige „Denkabwehrwaffen“ ergeben.
Spätestens jetzt sind wir bei den Gründen angekommen, warum sich Kants Buch lohnt. Man kann auf unterhaltsame Weise en passant eine neue Sprache erlernen. Und zwar eine, mit der man ungestraft echte, belastbare Kommunikation vermeiden kann. Sozusagen wie bei Politikern, nur in cool. Wer das vernünftig hinbekommt, kann mit etwas Reüssieren, wofür Jil Sander vor 21 Jahren noch gebrandmarkt wurde. Vergleichen wir dazu das ausschlaggebende Statement von ihr mit dem, was man bei Charlie Kant lesen kann:
Jil Sander: „Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewusste Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muss Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils.“ [4]
Charlie Kant: „Um die Lessons Learnt gescheit zu leveragen, sollten wir sie in unsere Key Deliverables embedden. Damit highlighten wir der Audience gegenüber unser Commitment, das Big Picture zu impacten.“ [5]
Unabhängig von der unterschiedlichen Länge der Zitate wird deutlich, dass der Verein Deutsche Sprache e. V., der Sander damals mit seinem Antipreis adelte – oder besser gesagt tadelte –, sich ruhigen Gewissens auflösen kann. Es gibt nichts mehr zu bewahren …
Learnings à gogo
Kommen wir zum Fazit: Allein als Bericht aus einem goldenen Hamsterrad wäre Kants Buch lesenswert. Unschlagbar wird es dank einer Vielzahl von Extras, darunter ein Glossar mit Fachausdrücken, ein Beratertest und Berater-Dialog zum Üben, eine Leistungsniveau-Einordnungstabelle: Best practice à gogo! Nicht einmal die Packliste für den Beraterkoffer entbehrt dieses Rundum-sorglos-Paket. Und als wäre das nicht genug, ist sicherheitshalber gleich ein ganzes Kapitel dem Ausstieg aus der Unternehmensberatung gewidmet. Ein Schritt, den Charlie Kant inzwischen vollzogen hat. Sollte es bei der Schriftstellerei bleiben, wird man gewiss wieder von ihr hören.
Wenngleich selbstverständlich alle Geschichten aus Kants Buch frei erfunden sind und etwaige Ähnlichkeiten mit realen Unternehmensberatungen auf Zufall basieren – die „Learnings“, die Leser hieraus ziehen können, sind real. Das wichtigste lautet „Sapere aude“, womit Charlie Kant ihren berühmten Namensvetter zitiert, auch wenn das von ihm zum Leitspruch der Aufklärung gemachte Zitat ursprünglich auf den knapp 1800 Jahre früher geborenen Horaz zurückgeht. Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, das ist zwar keine Garantie für ein erfülltes Leben, aber eine unabdingbare Voraussetzung. Wer das verinnerlicht hat, kann sogar weitgehend ohne Berater auskommen.
Charlie Kant
WIE LANG IST DIE EXTRAMEILE?
Eine Unternehmensberaterin misst nach
Mit Illustrationen von Jana Moskito
280 Seiten. Klappenbroschur.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Media GmbH. ISBN 978-3-86265-698-1
€ 14,99
Weitere Informationen:
https://www.schwarzkopf-verlag.net/store/p1060/WIE_LANG_IST_DIE_EXTRAMEILE%3F.html
Quellen:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Vermessung_der_Welt
[2] Kant, C. (2018): Wie lang ist die Extrameile? Eine Unternehmensberaterin misst nach. Berlin, S. 50.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Money_for_Nothing_(Lied)
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Sprachpanscher_des_Jahres
[5] s. [2], S. 35