Der Brand der Kathedrale Notre-Dame de Paris ist ein Sinnbild dafür, dass Selbstverständliches jederzeit verloren gehen kann, wenn wir nicht wachsam sind.

Mit dem Brand der Kathedrale Notre-Dame de Paris am 15. und 16. April 2019 verbindet sich eine bedrückende Symbolik. Auf schmerzhafte Weise wurde die Welt daran erinnert, dass uns etwas, das wir als selbstverständlich erachten, jederzeit binnen Minuten oder Stunden geraubt werden kann, wenn wir nicht wachsam genug sind. Dabei ist es einerlei, ob es zuvor über Jahrhunderte hinweg Bestand gehabt hat. Wie Recht hatte doch Willy Brandt, als er einst mahnte: „Nichts kommt von allein und nur wenig ist von Dauer.“

Projekt einer Elite?

Falls Katastrophen wie die Beinahezerstörung von Notre-Dame überhaupt irgendeinen Sinn ergeben, dann gewiss den, dass sie ins Bewusstsein rufen, wie viel bedeutsamer das Verbindende des gemeinsamen kulturellen Erbes ist, als alle Tendenzen der Spaltung – oder wie der damalige EU-Ratspräsident Donald Tusk es nach dem Brand ausdrückte: „Notre-Dame in Paris ist Notre-Dame in ganz Europa.“ Einziger Schönheitsfehler: Der Wiederaufbau wird von vielen als Projekt einer Elite aufgefasst, die sich Millionenspenden mit Leichtigkeit leisten kann, weil nicht zuletzt dank steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten die exorbitante Zunahme ihres Vermögens fast nicht zu verhindern ist, während die Einkommenszuwächse der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung kaum mehr mit den schnell steigenden Lebenshaltungskosten Schritt halten – und zwar ebenfalls in ganz Europa.

Eine Kontroverse löste zudem der Plan aus, den brennend eingestürzten Dachstuhl von Notre-Dame wieder originalgetreu aus dem Holz von 2000 Eichen aufzubauen, statt wie andernorts aus Beton. Ob es sinnvoll ist, dies beispielsweise in Beziehung zu setzen zur sich derzeit sogar zusätzlich beschleunigenden weltweiten Abholzung der Regenwälder, kann jeder für sich selbst entscheiden. Dass unser utilitaristischer, nahezu ausschließlich von Profitstreben bestimmter Umgang mit der Natur noch sehr viel länger gut gehen wird, darf auf jeden Fall bezweifelt werden.

Die kommunikative Funktion von Notre-Dame

Auch aus rein gestalterischer Sicht war die Art des Wiederaufbaus Gegenstand von Debatten. Die durch das französische Parlament beschlossene Wiederherstellung des Zustands von vor dem Feuer begrub die anfänglichen Hoffnungen vieler auf die Verwirklichung eines von mehreren vorgeschlagenen zeitgenössischen architektonischen Konzepten. Sie hätten die seit 1991 zum UNESCO-Welterbe gehörende Kirche vielleicht stärker zu einem modernen Ort der Begegnung und Kommunikation gemacht, ohne sie notwendigerweise ihres sakralen beziehungsweise denkmalhaften Charakters zu berauben.

Als „Form der Erinnerung“ wird Notre-Dame ihre kommunikative Funktion aber so oder so behalten. Die lange vor der Aufklärung erbaute Kathedrale zeugt vom Glanz und Elend unserer abendländischen Geschichte, die zu kennen bekanntlich die Voraussetzung zur Verhinderung ihrer Wiederholung in anderer Form ist. Der Wiederaufbau von Notre-Dame, der in eine Phase epochaler Umbrüche, Prüfungen und Herausforderungen fällt, wird so außerdem zum Symbol für die schicksalhafte Notwendigkeit, am „Haus Europa“ weiterzubauen und es zu festigen, damit das Erbe und der große europäische Traum von Staatsmännern wie Charles de Gaulle und Konrad Adenauer oder François Mitterrand und Helmut Kohl nicht verspielt wird.

 
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